"Avec vue sous la mer" - das ist der Titel der Originalausgabe dieses
Romans von Slimane Kader, und das ist die Position, die sich Wam, der Held
dieser Geschichte, für sein Leben wünscht als er auf dem Luxusliner
"Ocean King" anheuert, der 6000 Touristen durch die Karibik schippert.
Er will der bedrückenden Aura der Pariser Vorstädte entfliehen, will dahin wo
Sonne und Palmen glitzernden Wohlstand und Überfluss versprechen, will eine
Welt voll Unbeschwertheit und Müßiggang erobern. Aber dieser Kreuzfahrtriese,
der seinem Namen mit königlicher Größe alle Ehre macht, hat nicht nur 6000
Passagiere an Bord, die genussvoll schwelgend ihre Urlaubstage in der Bläue der
Karibik verbringen, sondern hält in seinem Bauch 2000 Arbeitskräfte bereit,
die ständig im Einsatz sind, um den reibungslosen Ablauf des High Society
Programms zu gewährleisten. Das sind die, denen man für die Dauer ihrer
Arbeitszeit die Pässe weggenommen hatte, damit sie dem wellenpflügenden Moloch
bis zum Ende der Fahrt zu Diensten sein mussten, weil sie ihre Papiere erst dann
zurück bekamen, wenn der Luxus-Gigant sein endgültiges Ziel erreichte und alle
Menschenfracht ausspie.
Die Fatties - wie die Touristen auf Grund ihres meist offensichtlichen
Übergewichts genannt werden - bevölkern die Decks mit verzogenen, kreischenden
Kindern, bequemen, ausladenden Sonnenliegen, die den sorgfältig eingeölten,
von kosmetischen Operationen mühsam in Form gehaltenen Körpern eine bequeme
Unterlage bieten und lassen keinen ihrer Ansprüche ungenutzt. Warum auch, wenn
ein Fingerschnippen eine ganze Hierarchie von Untergebenen auf den Plan zu rufen
vermag, denen nichts mehr eingebleut wurde, als absolutes touristisches
Wohlbefinden zu erzeugen, damit die existenzsichernden Lobeshymnen, auf welche
die Schifffahrtsgesellschaft angewiesen ist, nicht abreißen. In diesem perfekt
funktionierenden Räderwerk unten in schweißüberströmender, geschäftiger
Tiefe hat jeder seinen Platz. Eine Armada von Bediensteten, vom Koch bis zur
Revue-Tänzerin, vom Mechaniker über Wäschereihelfer, Oberkellner und Gigolos
sind Menschen verschiedenster Nationalitäten hier gelandet, um Geld zu
verdienen, ihren ärmlichen Verhältnissen in der Heimat zu entfliehen und
vielleicht eines Tages den Schritt aus dem Bauch heraus an Deck, ans Tageslicht
zu schaffen. Aber bis dahin gelten die Gesetze einer dunklen Arbeitswelt, die
mit hohem Gewaltpotential, Angst und Neid dafür sorgt, dass Niemand diesem
Kastensystem entfliehen kann, dass jeder "funktioniert" und sich
vertragsgemäß abrackert. Aber in allem Schweiß und erstickender Hitze gibt es
doch das Gefühl einer Solidarität, die ab und zu das gemeinsame Schicksal
spüren lässt und dadurch das Negative zu neutralisieren versteht.
Wams Position könnte man mit einer Portion Ironie als die facettenreichste
innerhalb der "Bauchbesatzung" bezeichnen - er ist ein
"Joker" - ein Mann für alle Fälle - vom "Hundeausführer"
über Rohrreiniger und Cookie-Bäcker bis hin zum Kinder-Animateur im
Eisbär-Fell und hundertfachen Kakerlaken-Mörder, dessen berufliche
Zugehörigkeitsgrenzen sich dadurch verwischen und einen Aufstieg vom Joker zum
Teamchef oder vom Dunkel ins Licht erleichtern könnten. Slimane Kader hat ein
brillantes Bild unserer Gesellschaft gezeichnet. Mit reichhaltiger, flüssiger
Sprache schreibt er über Banales und Bedeutsames, Absurdes und Normales,
Enttäuschendes und Rührendes. Mit humorvollen Metaphern und intelligenten,
sensiblen Beobachtungen holt er den Leser in unglaublicher Dringlichkeit zu sich
an Bord und versteht, die widersprüchlichsten Gefühle in ihm zu wecken -
Abneigung gegen die abstoßende, gedankenlose Dekadenz in der
"upper-class" und Partei zu ergreifen für die bezahlte Masse, die in
eigener Gesetzmäßigkeit den Rücken für ein paar Dollars krümmt. Ein Buch,
das nachdenklich stimmt, neue Blickwinkel öffnet und doch viel versöhnlichen
Humor zulässt, der allen menschlichen Stärken und Schwächen ihren Raum
zubilligt. Obwohl der Roman für mich während des Lesens einen gewissen Status
der Anonymität nicht verlassen hat, also eine Identifikation mit Personen
ausblieb, hatte ich doch ein anspruchsvolles Leseerlebnis, für das ich gerne
alle Sterne vergebe.
Fazit
Ausgezeichnete, kritisch-einfühlsame Lektüre über Lebens-Perspektiven, die so
nah beieinander sind und doch von Welten getrennt. Intelligent, humorvoll und
eindringlich umgesetzt.
Vorgeschlagen von brillenbaby
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veröffentlicht am 02. Juli 2015 2015-07-02 21:05:39