Wie kommt es, dass russische Memoiren so beeindrucken? Sie gehen buchstäblich
ins "Herz". Elementare menschliche Fragen und Gefühle, zu denen
Russen fähig sind, werden immer wieder aufgeworfen. Zuletzt konnte ich das an
den Memoiren Daniil Granins: "Das Jahrhundert der Angst" beobachten.
Die alleszerfressende Angst, die der totalitäre russische Staat seinen Bürgern
versetzte, die zum Zerfall konventioneller Moralstrukturen (so Tim Guldiman)
führte, kann an solchen Memoiren genauestens beobachtet werden.
Mit Daniil Granin eng befreundet ist der Autor der vorliegenden Memoiren.
Alexander Jakowlew war der "Vater der Perestroika", der
"Ideengeber" Gorbatschows, eine Persönlichkeit von ungewöhnlichem
geistigen Format. Im Dezember 2003 80 geworden, blickt der durch den zweiten
Weltkrieg geprägte Mann, der nach dem Studium der Pädagogik im Apparat der
KPdSU bis zum späteren Redenschreiber für die Parteichefs Chruschtschow und
Breschnjew aufsteigt, dann wegen unkonventioneller Ansichten 1973 als
Botschafter nach Kanada abgeschoben wird, auf sein Leben zurück. Nicht frei von
Selbstmitleid, sind diese Memoiren eine Beichte - ein unheimlich beeindruckender
Lebensbericht über Aufstieg und Fall des Kommunismus. Nicht erst Stalin,
sondern Lenin wird als geistiger Verursacher der Tragödie des Kommunismus
angesehen. Die Oktoberrevolution bezeichnet Jakowlew als Putsch, als
Konterrevolution, auf der Lenin gewaltsam die Macht ergriffen habe.
Beeindruckend ist, wie Jakowlew, der Zugang zu Originaldokumenten der
Kreml-Administration hat und Herausgeber der Reihe: "Russland. 20.
Jahrhundert, Dokumente" ist, mit der kommunistischen Vergangenheit des
Landes abrechnet: "Ich schicke mich nicht an, das bittere Thema weiter zu
vertiefen und zu fragen: Kto winowat? Wer ist schuld? Nach dem Sturm der
Dokumente aus der Hinterlassenschaft der Bolschewiki hat sich mir diese Frage im
Grundsatz geklärt und bis auf ihre schreckliche Nacktheit entblößt. Wir
selbst sind schuld!...Wir waren es, die unseresgleichen ausrotteten und
erschossen, Nachbarn und Kollegen denunzierten, bei Parteiversammlungen und
dergleichen, in Zeitungen und Zeitschriften, Filmen und auf Theaterbühnen die
ideologischen Scheusale entlarvten." Doch besonders Lenin habe den Terror
zum Prinzip und zur Praxis bei der Durchsetzung der Macht erhoben:
"Massenhafte Erschießungen und Folterungen, Geiselnahme und
Konzentrationslager...gehörten von Anfang an zum Repertoire dieser Macht."
Lenin verköprterte - so Jakowlew - den Inspirator und Organisator des Terrors
in Russland - "er steht für alle Zeiten vor dem Tribunal "Verbrechen
gegen die Menschlichkeit". /S:39). In dieser Schärfe hat meines Wissens
noch kein Spitzenpolitiker mit dem Gründer des russischen Kommunismus
abgerechnet. Detailliert weist Jakowlew dessen Schuld an der Tötung der letzten
Zarenfamilie nach. Seine Memoiren sind ein fesselndes Panorama der russischen
Geschichte des 20. Jahrhunderts. So empfindet Jakowlew Sympathie für die
Premierminister Nikolaus des II., Segej Witte und Pjotr Stolypin. Dessen
Ermordung 1911 bedauert er zutiefst: "Wie jeder Reformator wurde er
gehasst, weil er es wagte, an den Interessen dahinsiechender ökonomischer
Kräfte zu rütteln, die Rußlands Bewegung in eine gedeihliche Zukunft bremsten
(S. 121). Der Lauf der Geschichte Russlands wurde durch dieses Attentat
dramatisch gewendet. Das verknöcherte System wurde nicht reformiert, es kam zu
der - vom Autor mit großer Sympathie betrachteten - Februarrevolution 1917 und
dann zur Oktoberrevolution. Die Geschichte der russischen Revolutionen wird
eindringlich und packend beschrieben, genau wie Kriegswirren und Stalinzeit.
Jakowlew macht jedoch deutlich: der Terror begann bereits 1918, nicht erst unter
Stalin. Dies beweist er anhand sowjetischer Archive, die wir bereits dank der
Veröffentlichungen von Michail Voslensky: "Sterbliche Götter" und
Dimitri Wolkogonows: "Die sieben Führer" kennen. In dieser
Eindringlichkeit las ich sie jedoch zum ersten Mal. In seiner Düsterniss
erinnern die Schilderungen jener Zeit an Rybakows: "Kinder vom Arbat",
über dessen Publikation der Autor, wie er schreibt, zu entscheiden hatte. Er
ließ es veröffentlichen. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg. Zwar war
die Zeit Chruschtschows nach der Stalindiktatur eine Zeit der Hoffnungen,
besonders nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956, doch sind Jakowlews
Erinnerungen an Chruschtschow zwiespältig: "Unter den Politkern des 20.
Jahrhunderts fällt mir keine Persönlichkeit ein, die widersprüchlicher und
mit einem dermaßen tragisch gespaltenen Bewusstsein ausgestattet gewesen wäre
wie Nikita Chruschtschow." (S. 302). Chruschtschow sei ein Utopist gewesen
und ein "gewaltiger Wirrkopf" (S. 355). Doch erst unter Breschnjew
wird Jakowlew 1972 wegen eines unbotmäßigen Artikels 1972 als Botschafter nach
Kanada abgeschoben.
Erst Gorbatschow holt 1983 unter Andropow Jakowlew nach Moskau zurück und macht
ihn zu seinem engsten Berater. Das Gorbatschow-Portrait ähnelt dem vieler
entschlossener Reformer: dessen Mut, die Reformen 1985 anzustoßen, wird gelobt,
sein taktisches Bündnis mit den Reformgegnern 1990-1991 scharf kritisiert.
"Gorbatschow gehört zu der Generation Sowjetmenschen, in deren Psychologie
auf wundersame Weise Eigenschaften verschmolzen waren, die völlig
entgegengesetzt waren: Idealismus und Alltagspragmatismus, offizieller
Dogmatismus und praktische Zweifel, Glaube und Unglaube, ein kraftvoller,
gesunder Zynismus." (S. 560). Gorbatschow sei jedoch auch mit
"angeborenen oder erworbenen Mangeln im Charakter" behaftet und
misstrauisch gewesen (S. 578/579)."Es mangelte ihm offensichtlich an
Entschlossenheit, vor allem an der Entschiedenheit, sich selbst zu
überwinden." (S. 584). Ein meines Erachtens zutreffendes, faszinierendes,
sehr widersprüchliches Portrait seines Förderers, dessen Verdienste Jakowlew
durchaus anerkennt und würdigt. Es handelt sich um eines der besten
Charakterdarstellungen Gorbatschows, welches ich kenne. Jakowlew avanciert zum
Chefarchitekten der Perestroika und vollzieht als Vorsitzender der Kommission
politischer Repression die Rehabilitierung von Millionen von Opfern des
Stalinismus. Wegen Meinungsverschiedenheiten über die Reformpolitik verliert er
- noch unter Gorbatschow - seine Ämter. Jakowlew kritisiert Gorbatschows
Annäherung an die Konservativen 1990/91. Da habe er die Eigenschaft, zuhören
zu können verloren und sei den Einflüsterungen des KGB-Chefs Kruitschkows,
eines der Drahtzieher des Putsches 1991, erlegen. Schließlich musste er die
Macht im Dezember 1991 an Boris Jelzin abgeben, den er selber gefördert hatte.
"Michail Sergejewitsch Gorbatschowwollte das Allerbeste für sein
Land." Diese Bilanz zieht der Autor. Dies ist sicherlich korrekt. Doch ohne
Jakowlew - so steht für mich nach der Lektüre dieser Erinnerungen fest - wäre
es nie zu Glasnost und Perestroika und dem historischen Wandel der Sowjetunion
nach 1985 gekommen. Darin liegt der Verdienst dieser grossen Persönlichkeit.
Fazit
Mich haben die vorliegenden Memoiren sehr beeindruckt. Ich habe viel über
Rußland gelernt. Mögen diese Erinnerungen auch nicht frei von Selbstmitleid
und Ich-Bezogenheit sein (auch ist durchaus ein Hang zu unbewiesenen
Spekulationen (etwa über den Tod von Gorbatschows Vorgänger in Stawropol,
Fjodor Kulakow) feststellbar), so sind diese Memoiren eine der besten, die ich
je gelesen habe. Unbedingt empfehlenswert!
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 10. Februar 2004 2004-02-10 19:26:54