Selten ist mir die Lektüre eines Romans so mühsam gewesen und hat sich so
lange hingezogen wie die des "Kleinen Freundes" von Donna Tartt. (Das
war wohl umso mehr auch deshalb der Fall, weil ich gerade noch tief beeindruckt
war von Charlotte Links in jeder Hinsicht ausgezeichneten Roman "
Am Ende des Schweigens".)
Die Geschichte fängt spannend an. In Alexandria, einer Kleinstadt im Süden der
USA, geschieht ein unfaßbares Verbrechen: Während der Vorbereitungen zum
großen Muttertags-Festessen der Familie Cleve entdeckt eine Nachbarin den
neunjährigen Robin Cleve erhängt an einem Baum. Die rätselhaften Umstände
seines Todes werden nie ganz aufgeklärt, der Mörder bleibt unentdeckt. Als das
geschieht, ist Harriet Cleve, Robins Schwester, gerade erst wenige Monate alt.
Sie wächst also ohne persönliche Erinnerungen an ihren Bruder auf. Ihre Fragen
nach seinem Schicksal bleiben, da sie bei der Familie alte Wunden aufreißen,
stets unbeantwortet. Mit zwölf Jahren beschließt Harriet, der Sache selbst auf
den Grund zu gehen, und sie macht sich auf die Suche nach Robins Mörder.
Meine Erwartung, sie möge ihn bis zum Ende der 763 Seiten irgendwann finden,
bleibt allerdings leider unerfüllt. Noch weit mehr enttäuschend fand ich
jedoch, daß diese Suche bereits nach dem Prolog völlig aus den Augen gerät.
Bald hatte ich sogar den Namen des ermordeten Knaben vergessen, denn von ihm war
keine Rede mehr. Stattdessen fand ich mich als Leser in einem Panoptikum von
Bildern und Episoden wieder, die für sich genommen zwar unterhaltsam erzählt
sind, aber für mich kein Ganzes bildeten. Mir fehlte der innere Zusammenhang,
der aus Geschichten eine Geschichte macht. Ich vermißte Erzählstränge, die
sich irgendwo zusammenfügen, und ich suchte vergebens nach dem Fortgang einer
Haupthandlung. Aber ich vermochte keine sich entwickelnde und fortschreitende
Gesamthandlung zu erkennen. Anfangs fragte ich mich noch bei jedem einzelnen
Geschichtchen nach seiner kompositorischen und dramaturgischen Funktion für das
Ganze, aber dann gab ich das auf. Eine übergreifende Romanidee ist mir bis
zuletzt verborgen geblieben.
"Der kleine Freund" ist trotz seinem beachtlichem Umfang nicht der
große Gesellschaftsroman, den Klappentext und Prolog erhoffen lassen. Er ist
auch alles andere als ein Kriminalroman, der seine Leser bis zuletzt in
atemloser Spannung hält. Er zieht sich in einem unverbindlichen Plauderton
endlos dahin, so daß ich ihn eigentlich gar nicht einen Roman nennen möchte,
sondern eher eine riesenhaft aufgeblähte Schilderung des Alltagslebens in den
Südstaaten der heutigen USA. Dabei fließt zwar viel Lokalkolorit ein (auch
sprachlich und stilistisch, denn viel zu oft für meinen Geschmack tauchen da
solche Wörter auf wie das - unübersetzt gebliebene - "motherfucker"
und "Scheiße"), aber das hat mich mit dem Fehlen eines "roten
Fadens" natürlich nicht versöhnt. Die sich mir nicht erschließende
Antwort auf die Frage, worauf denn nun eigentlich alles hinauslaufen sollte und
was der Roman mit Robins Tod und seinem Mörder zu tun haben sollte, ließ in
mir immer mehr die resignierende Langeweile um sich greifen. Das Buch hat nach
dem Prolog noch sieben Kapitel. Hätte ich mich nicht verpflichtet, eine
Rezension zu schreiben, würde ich es spätestens nach dem zweiten Kapitel aus
der Hand gelegt haben.
Fazit
Quintessenz: Dieser Roman hat mir weit mehr Verdruß als Genuß bereitet. Aber
wie subjektiv - und damit auch gegensätzlich - die Meinungen über ein Buch
zuweilen ausfallen können, beweisen diese Sätze im Klappentext: "...ihr
lange erwartetes zweites Buch begeisterte erneut Leser sowie Kritiker
gleichermaßen."
Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner
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veröffentlicht am 10. Februar 2004 2004-02-10 19:18:54