Inken, die Betreuerin des Survival-Camps "Wilde Mädchen", wirkte
nicht gerade kompetent. Aber Charlottes Eltern hatten den Aufenthalt auf dem
Gelände eines ehemaligen Pionierlagers im Voraus bezahlt und so gab es kein
Zurück mehr. Acht Teilnehmerinnen aus der Stadt, für die der Wald bisher eine
fremde Welt war, hatten sich verpflichtet, ihr Mobiltelefon abzuliefern und
sich Inkens Anweisungen zu beugen. Als die auf Charlotte recht sonderbar
wirkende Betreuerin einfach verschwindet, kommt Anuschka auf eine zündende
Idee. Niemand wird die Mädchen in den nächsten zwei Wochen vermissen, so dass
sie ein einziges Mal tun und lassen könnten, was sie wollten. Anuschka kennt
von ihrem Großvater einen aufgegebenen und von außen überwucherten Tunnel
eines Bergwerksschachts, in dessen Nähe die Mädchen kurzerhand ihren
Abenteuerurlaub verlegen wollen.
Während man sich als Leser noch fragt, wer das soziale Experiment aus der Ferne
wohl beobachten und auswerten wird, machen die nun sieben Mädchen sich auf den
Weg ins Erzgebirge. Wie Charlotte ist jede der Teilnehmerinnen im bürgerlichen
Leben Außenseiterin, ob Kindskopf, Tussi oder mit den falschen Eltern
gebrandmarkt wie Charlotte. Was ist von einem Mädchen namens Freigunda zu
erwarten, das mit fünf Brüdern aufwächst und dessen Eltern ihren
Lebensunterhalt auf Mittelalter-Märkten verdienen? Freigunda spricht exakt so
wie ich es von jemand erwarte, der sich mittelalterlich gewandet. Kinder wie
Freigunda kommen nicht in die Pubertät, stellt sich Charlotte vor.
"Nirgends [war] ein Elternteil oder eine Lehrerin in Sicht, die man
scheiße finden konnte." (S. 125) Die Mädchen merken sehr schnell, wie
viel Mühe es allein kostet, täglich Nahrung zu beschaffen, zuzubereiten und
selbst am Leben zu bleiben. Die Führung der Gruppe übernimmt Bea. Sie macht
die Regeln, sorgt für sozialen Frieden; Bea weiß immer, wer sich in einer
unheimlichen Situation fürchten wird. Bea verblüfft die anderen, weil sie
Autofahren und Kartenlesen kann. Zum Zauber des Waldes und der Dunkelheit kommt
als neue Erfahrung die Fürsorge der Mädchen für ein paar ältere Hunde aus
dem Hundetransporter, den sie geklaut haben. Schon bald müssen sie sich mit
dem Medienecho befassen, das ihr Verschwinden erzeugt und Fans der
"Mädchenmeute" kreiert.
Gezickt wird in Beas Truppe selten. Die Individualität ihrer Persönlichkeiten,
die die Mädchen zuhause auf dem Schulhof zum Gespött werden ließ, zeigt sich
beim Abenteuer beim aufgelassenen Bergwerkstunnel als unerwartete Stärke. Jede
bringt eigenwillige Ideen ein und umsorgt auf ihre Art die Gefährtinnen und die
Hunde. Kirsten Fuchs‘ Icherzählerin gibt so manche Redensart zum Ausdrucken
und Einrahmen von sich, wie das "silbernes Klohäuschen, bei dem man nicht
wusste, wann es wieder zurück zum Mond fliegen würde."
Fazit
Für eine bisher von Jungen noch ungeküsste Fünfzehnjährige wirkt Charlotte
ungewöhnlich reif, ihre Sprache fantasievoll und voller Wortwitz. "Die
Mädchenmeute" erscheint bei Rowohlt Berlin im normalen Programm - nichts
spricht dagegen, dass der Roman von deren Überleben im Wald bereits von
Jugendlichen in Charlottes Alter gelesen wird.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 31. Januar 2015 2015-01-31 10:03:19