In ihrer Neuinterpretation siedelt Margo Lanagan Motive des Märchens
"Schneeweißchen und Rosenrot" in einer parallelen Welt aus Träumen
der Menschen an. Als die schwangere Liga sich voller Scham und Verzweiflung das
Leben nehmen will, kommt ihr eine märchenhaft leuchtende Erscheinung zu Hilfe,
die die bisher beherrschende Gewalt und alles Böse aus der Umgebung des
Mädchens entfernt und sie in Frieden ihre Kinder aufziehen lässt. Alte
Widersacher sind mitsamt ihren Häusern aus Ligas neuer Welt radikal ausradiert.
Liga werden zwei radikal gegensätzliche Mädchen geboren, die sanfte, blonde
Branza und Urdda, die kleine Rote, ein temperamentvolles, freiheitsliebendes
Kind. Wie in jeder Beziehung zwischen Schwestern geraten zwischen Urdda und
Branza die Gefühle gern einmal außer Rand und Band. Liga und ihre kleinen
Töchter leben in einer ländlichen Idylle, in der der Himmel klarer und das
Moos weicher ist als anderswo.
In der realen Welt leben derweil die Menschen von Schafzucht und Wollhandel. Die
jungen unverheirateten Männer von St. Olafred, einer Stadt mit einem Bären im
Wappen, binden sich am Tag des Bären ein Bärenfell auf und werden für einen
Tag zu Bären. Am Tag ihrer Initiation treiben die Junggesellen allerlei Unfug,
stellen in erotisch geladener Atmosphäre als Bär den Mädchen nach und
begrabschen sie. Vom folgenden Tag an beginnt für die jungen Männer der Ernst
des bürgerlichen Lebens.
Wegen der Leichtfertigkeit einer Person, die nie eine ordentliche Ausbildung
ihrer magischen Kräfte erhalten hat, verrutscht die Verbindung zwischen den
Welten, als hätte man zwei unterschiedlich lange Stoffbahnen mit einer Naht
zusammengerafft. Durch diese für Menschen durchlässige Falte zwischen
Realität und Traumwelt gelangt am Tag des Bären Davit Ramstrong aus St.
Olafred in Ligas Welt und lebt (nach Ligas anderem Zeitverständnis) eine Weile
als Gefährte mit ihr. Davit zeigt sich in beiden Welten als kluger, sanfter
Mann, der Ligas Töchter vergöttert. Kein Wunder, dass die wissbegierige Urdda
unbedingt Davits Welt kennenlernen will und nicht ruht, bis sie den Durchlass in
Davits Stadt findet.
Urdda wird nach ihrer Ankunft von anderen Frauen gleich ermahnt, dass in der
Stadt Mädchen nicht allein draußen herumlaufen, ohne von Mutter, Schwester
oder ihren Freundinnen begleitet zu werden. In St. Olafred liegen Glanz und
Schatten nah beieinander. Die Gewalt von Männern gegenüber Frauen kann nur im
Zaum gehalten werden, indem Frauen sich durch Heirat aus dem Schutz des
Elternhauses in den Schutz und unter die Aufsicht eines Ehemannes begeben. Liga
hatte mit ihrer Traumwelt nur Gutes für ihre Töchter erhofft und kämpft gegen
einen Wirrwarr aus Beschützerinstinkt und Schuldgefühlen gegenüber den
Mädchen. Ligas Welt konnte ihre Töchter nur in der Kindheit schützen. Mutter
und Töchter müssen sich nun gemeinsam dem Heranreifen der Mädchen stellen.
Zum Ablösungs- und Reifungsprozess der drei Frauen gehört auch Urddas
Konfrontation mit der Gewalttat, bei der sie einst gezeugt wurde.
Fazit
In wort- und bildgewaltiger Sprache und mit stimmungsvollen Naturschilderungen
führt uns Margo Lanagan in zwei gegensätzliche Welten, die wie die Hälften
einer krumm gewachsenen Gartenfrucht eine seltsame Einheit bilden. Durch
wechselnde Erzählperspektiven (jeweils mit dem Namen des Ich-Erzählers oder
des Handelnden überschrieben) erhält man als Leser des komplexen Plots Zugang
zur Gedankenwelt der jungen Bärenmänner, eines Zwergs, sowie einer erfahrenen
und einer jugendlich-leichtsinnigen Magierin. Märchen- und Fantasy-Liebhabern,
die drastische Szenen nicht ablehnen, bietet Margo Lanagan mit dem Roman ein
pralles Leseerlebnis.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 29. Januar 2015 2015-01-29 14:08:06