Mariette, Millie und Mike stehen allesamt an einem Wendepunkt in ihrem Leben.
Mariette wird von ihrem narzisstischen Mann ausgenutzt und in ihrem Beruf als
Lehrerin gemoppt, bis sie einen Nervenzusammenbruch erleidet. Millie ist Anfang
zwanzig und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Als eines Tages in
ihrem Haus ein Feuer ausbricht, bleibt ihr nur der Sprung aus der vierten Etage.
Der ehemalige Militärangehörige Mike hat seine Zeit dort unehrenhaft beendet
und lebt seitdem als Clochard auf der Straße. Eines Tages wird er von einer
Gang brutal zusammengeschlagen. Alle drei stehen an einem besonderen Punkt in
ihrem Leben und treffen in dieser Situation Monsieur Jean, der die
Hilfsorganisation Atelier leitet. Er verspricht, ihnen zu helfen und scheinbar
geht sein Vorhaben auch wirklich auf. Doch auch Monsieur Jean hat ein
Geheimnis.
In ihrer französischen Heimat ist Valérie Tong Cuong kein unbeschriebenes
Blatt mehr. Nachdem sie ihre berufliche Tätigkeit in der Kommunikationsbranche
nicht mehr ausfüllte, beschloss sie, ihr Leben den schönen Künsten zu widmen.
Das Resultat sind bisher sieben Romane und zahlreiche Kurzgeschichten. Mit
"Das Atelier der Wunder" will die mit einem Vietnamesen verheiratete
Autorin jetzt auch die deutsche Leserschaft für sich gewinnen.
Und dieser Plan scheint zunächst auch komplett aufzugehen. Im Wechsel stellt
Valérie Tong Cuong ihre drei Hauptfiguren vor, wobei sie jeweils mit einem
Ich-Erzähler arbeitet. Ein Kunstgriff, der durch die klar definierten und sehr
gut herausgearbeiteten Figuren an keiner Stelle verwirrend ist. So erlebt der
Leser mit, wie Mariette von einem jugendlichen Schüler an den Rand des
Wahnsinns getrieben wird, muss erfahren, dass Millie wegen eines schrecklichen
Vorfalls in der Vergangenheit von ihren Eltern ausgegrenzt wurde und erfährt,
warum Mike seine Zelte beim Militär abgebrochen hat. Mit dem Auftauchen von
Monsieur Jean und der Aufnahme der drei so unterschiedlichen Figuren in das
Atelier bekommt der Roman einen zusätzlichen Spannungsbogen. Für Mariette,
Millie und Mike wendet sich das Blatt zum Guten. Scheinbar, denn im weiteren
Verlauf müssen sowohl der Leser als auch die drei Protagonisten erkennen, das
Monsieur Jean nicht der Wohltäter ist, für den er sich ausgibt.
Und hier liegt für mich auch der negative Knackpunkt des Romans. Trotz
intensiver Lektüre kann ich mich mit der Wandlung von Monsieur Jean vom Saulus
zum Paulus nicht anfreunden. Überhaupt wird für mich das Atelier nicht
wirklich greifbar. Einen Großteil seiner Spannung bezog der Roman für mich aus
der Frage, was es mit der Organisation und mit Monsieur Jean auf sich hat. Und
diese Frage wurde (zumindest für meinen Geschmack) nicht wirklich plausibel
beantwortet.
Fazit
"Das Atelier der Wunder" ist insgesamt ein lesenswerter Roman. Das
Schicksal der drei Hauptfiguren ist sehr anschaulich und lebensnah dargestellt
und birgt mehr als genug potential, um den Leser zu fesseln. Lediglich das Ende
ist in meinen Augen nicht überzeugend und mindert ein wenig das Lesevergnügen.
Vorgeschlagen von Michael Krause
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veröffentlicht am 12. Juli 2014 2014-07-12 14:45:15