Die Vernichtung der deutschen Juden und den Zweiten Weltkrieg überlebt
Franziska Mangold in
Liverpool Street in einer
englischen Pflegefamilie. Wie das Schicksal der Familie Mangold hätte verlaufen
können, wenn rechtzeitig die gemeinsame Emigration nach Shanghai gelungen
wäre, lässt Anne C. Voorhoeve ihre Hauptfigur nun in "Nanking Road"
erzählen. Franz Mangold als assimilierter Jude wird unter der Bedingung aus dem
KZ Sachsenhausen entlassen, dass er Deutschland verlässt. Shanghai ist die
einzig denkbare Zuflucht der Familie, weil für das ausländische Settlement in
der von den Japanern besetzten Stadt noch kein Visum gefordert wird. In einem
sehr knappen Zeitfenster reisen Mangolds aus Deutschland aus. Das Vermögen der
Familie ist beschlagnahmt, die Reichsfluchtsteuer gezahlt. Bis zur letzten
Minute fürchten Franziskas Eltern, dass ihre Fluchtpläne noch scheitern
könnten. In Berlin bleiben Ziskas beste Freundin Bekka zurück und die Familie
ihrer Tante Ruth.
In Shanghai werden die Emigranten von jüdischen Hilfsorganisationen
unterstützt, wohlhabende Gönner gründen Schulen für die Kinder. Die
Jugendlichen passen sich zumeist schneller an als die Erwachsenen. Franziskas
Generation muss eigene Kräfte mobilisieren; denn die Eltern sind erschöpft vom
täglichen Kampf ums Überleben in einer völlig fremden Kultur. Gewohnte Worte
haben in China eine andere Bedeutung erhalten. Die Straße dient hier nicht
allein dem Verkehr, sie ist der Lebensraum, in dem gekocht, der Mensch und seine
Wäsche gewaschen, wo gehandelt und gestorben wird. Franziska erkennt, dass es
auch chinesische Flüchtlinge gibt und sie von niemandem Hilfe erwarten können.
In den Köpfen der Menschen sind im Kriegsverlauf neue Ghettos entstanden. Als
assimilierte Juden werden Mangolds die neuen Gräben besonders deutlich, die
zwischen den Kriegsparteien, zwischen Deutschen, Juden und Chinesen verlaufen.
Für Verfolgte mit jüdischen Vorfahren, die erst vom Hitlerregime zu Juden
erklärt wurden, ist Jesus hier offenbar nicht mehr zuständig, überlegt sich
Franziska.
Franziska verbringt in Shanghai ihre prägenden Jugendjahre und findet hier
Freunde und Unterstützer. Die scharfsinnige Zehnjährige wächst zu einem
selbstbewussten Teenager heran und überlebt mithilfe ihrer eigenen
Urteilsfähigkeit. Ziskas Mutter dagegen hat sich so lange vor den Deutschen
unsichtbar machen müssen, dass sie die Furcht nie mehr ganz ablegen kann,
durch einen winzigen Fehler Schuld am Schicksal anderer auf sich zu laden. Das
Überleben kann von einem Brief abhängen, der seinen Empfänger nicht erreicht,
oder von einem gescheiterten Zusammentreffen. Überleben oder Vernichtung trennt
nur ein dünner Grat. Auch Franziska kann sich nicht von Schuldgefühlen
befreien, weil sie noch lebt, während das Schicksal der Zurückgelassenen lange
ungeklärt bleibt. Im Epilog vermittelt Voorhoeves - inzwischen erwachsene -
Icherzählerin nach Ende des Kriegs zwischen Eltern und ihren entfremdeten
Kindern, die in England überlebten. Mit diesem Schluss erinnert die Autorin an
jene Frauen, die ein fremdes Kind retten konnten, indem sie es in schweren
Zeiten als Pflegekind aufnahmen.
Fazit
Mit Franziska ist Anne Voorhoeve auch in diesem historischen Jugendroman eine
glaubwürdige Figur gelungen, deren Einzelschicksal beim Leser Anteilnahme und
Interesse für Emigrantenschicksale zur Zeit des Nationalsozialismus weckt.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 31. Januar 2014 2014-01-31 18:15:41