Charlotte Links Buch "Am Ende des Schweigens" gehört zu den Romanen,
deren Lektüre man nur notgedrungen unterbricht. Selbst eine vierstündige
Wartezeit beim Arzt war mir mit ihm diesmal nicht lästig, sondern sogar
willkommen, und das will schon etwas heißen.
Stanbury, ein Dorf nahe der englischen Stadt Yorkshire, ist der Hauptschauplatz
der Ereignisse. Dort verbringen alljährlich drei befreundete deutsche Ehepaare
mit Kindern ihren Urlaub, von denen einer Grundstück und Haus in romantischer
Landschaft gehört. Nach außen hin sieht es so aus, als ob die seit Jahrzehnten
währende Freundschaft zwischen diesen neun Menschen auf einer unzerstörbaren
Harmonie gegründet ist, aber der Schein trügt. Jeder spürt auf seine Weise,
daß da etwas nicht stimmt, aber niemand außer Ricarda, einer der Töchter, und
ihrer Stiefmutter Jessica wagen es, dieses Unbehagen auszusprechen. Die
Vorgängerin an der Seite ihres Ehemannes hatte sich schon deswegen scheiden
lassen, weil sie die auf rätselhafte Art belastenden Beziehungen in der Gruppe
nicht mehr hatte ertragen können. Dieses Miteinander erscheint auch Jessica
bedrückend zwanghaft und verlogen, die ganze scheinbar so idyllische
Atmosphäre wirkt in ihrer eigenartig lauernden Stille bedrohlich. Sie gewinnt
immer mehr den Eindruck, daß Alexander, ihr Mann, sich der Gruppe mehr
verpflichtet fühlt als ihr, und sie fürchtet, daß es ihr wie seiner ersten
Frau ergehen könnte, die er dieser Freunde wegen hatte fallen lassen. Als er
derentwegen schließlich sogar das Vertrauen und die Liebe seiner Tochter
verspielt, beabsichtigt sie endgültig, auf eine Klärung dieser rätselhaften
und unnatürlich anmutenden Bindungen zu dringen.
Sie kommt allerdings nicht mehr dazu, denn es geschieht völlig unerwartet ein
fürchterliches Verbrechen in dem Haus von Stanbury, dem auch Alexander und
fünf weitere Personen zum Opfer fallen. Es gibt nur drei Überlebende, zu ihnen
gehören auch Jessica und ihre Stieftochter Ricarda. Durch diesen grausamen
Massenmord, dessen Urheber lange unbekannt bleibt, wird gleichsam wie eine
Lawine eine Entwicklung ausgelöst, die nach und nach all die Verstrickungen
aufdeckt, die zwischen den einzelnen Personen existiert haben. Das verworrene
Geflecht von Schuld wird allmählich bloßgelegt, das diese Menschen aneinander
gebunden und zum Schweigen verdammt hatte; die weit in der Vergangenheit
zurückliegende Wurzel des Verschworenseins der drei Männer wird offenbar, und
all die Geheimnisse, Widersprüche und Ungereimtheiten klären sich auf, die
über den Personen der Handlung ebenso spannungsvoll lagen wie über dem Leser.
Die Übriggebliebenen werden mit ihrer ganz persönlichen Wahrheit konfrontiert,
und das Ende des Schweigens wird zugleich zum Anfang des Redens, zum Beginn
ihrer Befreiung und eines neuen Weges.
Es gelingt der Erzählerin in hervorragender Weise, mit sprachlichen Mitteln die
extreme Unterschiedlichkeit und auch die Entwicklung der Hauptfiguren
herauszuarbeiten. Als ganz besonders gelungen empfinde ich die Charakterisierung
der Ricarda, die in den dazwischengeschobenen Tagebucheintragungen sehr
überzeugend in der Denk- und Gefühlswelt eines fünfzehnjährigen Mädchens
lebt und deren Sprachstil schreibt. Er unterscheidet sich deutlich von den
verschiedenen Ausdrucksweisen der anderen Personen, die allein schon an ihrer
Sprechweise zu erkennen sind. Auch eingefügte Texte psychologischer
Beobachtungen einer der handelnden Figuren treffen genau den wissenschaftlichen
Stil und sagen zudem sehr viel über die Persönlichkeit des Schreibers aus.
Diese meisterhafte Sprachbeherrschung ist eine der Stärken der Autorin. Eine
andere besteht in der Fähigkeit, Menschen mit ihrem Denken und Tun, ihrem
Erleben und Verhalten zu erklären. So kommt zu ihrem großen Erzähltalent noch
die Spannung, die aus der psychologischen Tiefe des Erzählten erwächst. Diese
ist es vor allem, die weit mehr als nur einen reinen Kriminalroman entstehen
läßt.
Die in Wiesbaden lebende Autorin Charlotte Link, geboren 1963, hat sich in den
letzten Jahren zu einer der erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen
entwickelt. Ihre letzten Romane ("Die Täuschung", "Die
Rosenzüchterin", "Der Verehrer", "Das Haus der
Schwestern" und die Trilogie "Sturmzeit") beweisen eine
beachtliche Vielseitigkeit ihres Talents: Vom psychologisch-tiefgründigen über
den intelligent-spannenden Kriminalroman bis zum großen Familien- und
Gesellschaftsroman beherrscht sie alle Genres der epischen Literatur. Ihre
Bücher existieren bereits in mehreren Sprachen, ihre verfilmten Romane
"Sturmzeit" und "Die Täuschung" waren große
Publikumserfolge.
Der über 600 Seiten umfassende Roman verfügt über eine klare, übersichtliche
Gliederung und bleibt trotz mehreren Nebenhandlungen und Rückblenden immer als
Ganzes verständlich. Die einzelnen anfangs und später begonnenen
Handlungsstränge fügen sich nacheinander zu einer stimmigen Komposition
zusammen. Das Buch besteht aus vier Teilen mit jeweils ein bis drei Dutzend
Kapiteln. Jeder Teil, dem immer ein Prolog vorangestellt ist, behandelt einen
relativ in sich abgeschlossenen Zeitabschnitt des streng chronologischen Ablaufs
vom 12. April bis zum 27. Mai eines nicht näher bestimmten Jahres in der
Gegenwart. Während dieser sieben Wochen vollzieht sich die gesamte minutiös
beschriebene Handlung. Diese epische Breite wird aber nie langweilig, die
Leselust läßt an keiner Stelle nach, die Spannung bleibt bis zur letzten Seite
erhalten.
Fazit
Diese Lektüre bedeutete für mich einen tagelangen großen Lesegenuß. Wer an
guter Literatur interessiert ist, die nicht nur den nach oberflächlicher
Unterhaltung suchenden Leser anspricht, sondern auch geistige und ästhetische
Ansprüche auf hohem Niveau erfüllt, dem kann ich dieses Buch sehr empfehlen.
Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner
[Profil]
veröffentlicht am 29. Dezember 2003 2003-12-29 18:59:16