Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich Märchen liebe? Die lese ich allerdings
meist in Form von Märchensammlungen. Deshalb wäre ich auch beinahe an dem
ursprünglich bereits im Jahr 2000 und auch unter dem Titel Die Braut des
Spielmanns erschienenen und 2009 neu von DRYAS aufgelegten Debütroman von
Ingrid Ganß vorbeigelaufen. Zu unscheinbar und trist erschien mir ehrlich
gesagt dessen Aufmachung. Weder die Covergestaltung noch die Dicke des Buches
deutete auf das hin, was ich letztlich darin fand. Die 1959 geborene Autorin,
Fremdsprachenkorrespondentin und Industriekauffrau schreibt seit frühester
Kindheit Geschichten und Märchen. Ihr Debütroman erzählt das Märchen von
König Drosselbart der Brüder Grimm auf tiefgründige und nicht durchgehend
märchenhafte Weise nach.
Während bei den bekannten Märchenerzählern die Prinzessin anfangs nur
wankelmütig, stolz und hämisch-übermütig dargestellt wird, erfährt man
durch Ganß, was hinter deren Verhalten steckt. Ihre weibliche Hauptfigur
Elisabeth von Messelstein, die behütet und verwöhnt aufgewachsen ist,
offenbart sich als gebildete und moderne Fürstentochter. Das geht so weit, dass
sie sich weigert, den Heiratsplänen zuzustimmen, die ihr Vater für sie
schmiedet. Sie schüttet genau wie ihre Grimm-Vorgängerin Spott und Häme über
mögliche Kandidaten aus, um diese abzuschrecken. Und genau wie diese muss sie
mit den Folgen leben. Denn ihr Vater schwört angesichts ihrer Aufmüpfigkeit,
sie mit dem erstbesten Mann zu verbinden, der um ihre Hand anhält. Bei einer
Verfilmung von König Drosselbart mit Ken Duken trug der einen unansehnlichen
Zottelbart im Gesicht und lebte augenscheinlich mehr schlecht als recht von
seinen Tonwaren. Ganß lässt ihren Spielmann Jakob, besagter Erstbester, gleich
von Anfang an gut aussehen. Ein Bruch zu Elisabeths bisherigen Leben ist das an
der Seite ihres Mannes auf staubigen Landstraßen, in einer schäbigen Hütte
und einer Welt voller Gaukler, Zigeuner und einfachem Volk jedoch allemal. Bald
schon droht sie am Kampf ums Überleben zu verzweifeln. Doch als sie erkennt,
dass sie die wahren Schönheiten des Lebens in ihrem goldenen Käfig bislang
nicht erkannt hat, versucht sie, an Jakobs Seite eine Existenz aufzubauen.
Während die Brüder Grimm sich auf einige Aspekte beschränkten (immerhin haben
ihre Märchen selten allzu viele Seiten), kann Ganß wesentlich tiefer gehen und
tut dies auch. Sie siedelt ihre Geschichte im von Armut und Not gebeutelten
Deutschland Mitte des 17. Jahrhunderts kurz nach dem 30jährigen Krieg an. Die
von ihr heraufbeschworenen Orte sind erdacht, wirken jedoch real. Bauern
versuchen sich gegen die nach wie vor im Luxus lebenden Adligen bzw. deren stete
Forderungen in Form von Steuern und Abgaben aufzulehnen, was tödliche Folgen
für sie haben kann. Elisabeth zeigt sich bezüglich ihrer Rolle als Frau
emanzipiert. Die gleichermaßen nachdenkliche wie zunehmend sympathische
weibliche Hauptfigur steht einem männlichen Part gegenüber, der an der Welt zu
verzweifeln droht. Seine Gedanken werden selten explizit ausgesprochen. Doch
obwohl die Geschichte größtenteils aus Elisabeths Sicht erzählt wird, kann
man als LeserIn Jakobs Überlegungen, seine Zweifel und Hoffnungen allzeit klar
nachvollziehen. Er scheint ein recht bewegtes, aufrührerisches Leben geführt
zu haben. Während er Elisabeth mehrfach auflaufen und sie ihre Vorurteile und
ihr Unwissen auf die harte Tour erkennen lässt, muss er feststellen, dass er
selbst nicht von Voreingenommenheit, Intoleranz und Engstirnigkeit frei ist. Wer
oder was er wirklich ist, beschäftigt LeserInnen den ganzen Roman hindurch, das
Geheimnis wird erst gegen Ende etwas gelüftet.
Empathisch und sorgfältig beschreibt die Autorin die Wandlung, die Elisabeth
durchmacht. Das Gefühl der inneren Zerrissenheit, dass das neue Leben (welches
durchaus Platz für eigene Wünsche und Träume bietet), im Zusammenhang mit dem
damaligen Sinn für Sitte und Anstand und ihrer Erziehung auslöst. Und so
modern die junge Frau in gewisser Weise denken mag, so unsicher ist sie bei
allem, was die körperliche Seite ihrer Ehe mit Jakob angeht. Wobei man hier
eindeutig sagen kann: Ein Glück, dass es Jakob ist und niemand, der sie einfach
derb an ihre ehelichen Pflichten erinnert und sich über ihre Bedürfnisse
hinwegsetzt. Doch einfach ist das Leben an seiner Seite wie gesagt nicht.
Schlüssig und stringent verwebt Ganß einen bildhaft-detaillierten Erzählfaden
mit dem anderen. So entsteht sukzessive eine dichte und stimmige
Hintergrundatmosphäre, vor der die komplex herausgearbeiteten Figuren agieren.
Doch birgt das Schaffen einer dichten Hintergrundatmosphäre die Gefahr von
Längen; Ganß konnte sich ihr denn auch prompt nicht völlig entziehen.
Ein weiterer Schwachpunkt ist, dass die Autorin in dem Versuch, ihre Figuren so
authentisch wie möglich darzustellen, eingangs Dialoge durch Verwendung
einzelner Begriffe so hochtrabend-gekünstelt und salbungsvoll-gespreizt
gestaltet, dass manche vielleicht das Buch verfrüht aus der Hand legen. Doch
ist das wirklich ein Schwachpunkt? Die Dialoge mögen aus heutiger Sicht
betrachtet zu gestellt wirken. Gleichzeitig zeigt sich durch diese gekünstelte
Hofsprache jedoch sehr gut die vermeintliche Überlegenheit des Adels über das
einfache Volk. Zumal diejenigen, die sich daran stören, bald feststellen
werden, dass die Dialoge lebendiger werden, sobald Elisabeth an Jakobs Seite
Messelstein verlässt. Spätestens ab da liest sich der Roman sehr flüssig.
Doch während die Brüder Grimm ihre Figuren glücklich bis an ihr Ende leben
ließen, steuert die Geschichte von Jakob und Elisabeth auf ein offenes Ende zu.
Es vereint Hoffnung und die harte, reale Existenz auf subtile Weise miteinander.
Es passt auch auf die beiden Hauptfiguren und überhaupt sehr gut, weil es aus
der Geschichte heraus und in sich die einzig konsequente Lösung ist. Doch
spätestens hier unterscheidet sich der Roman von der Märchenvorlage.
Fazit
Ein trotz kleinerer Längen lebendig erzählter, mitreißender Mix aus Märchen,
Liebesgeschichte und historischem Roman, der sich irgendwie allen
Genrezuordnungen zu entziehen scheint. Ein Roman von Schuld und Sühne, Stolz
und Vorurteil, Liebe und Vergebung; der zeigt, wie sehr ein erster Eindruck
täuschen kann. Und einer, der glücklicherweise eine Fortsetzung gefunden hat.
2010 erschien Der König, den ich nach Der Spielmann mit Sicherheit ebenfalls
lesen werde.
Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)
Vorgeschlagen von Ati
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veröffentlicht am 24. April 2013 2013-04-24 10:33:38