Altersempfehlung ab 13 Jahre
Nach etlichen Sachbüchern möchte ich mich heute wieder einem Roman zuwenden
-dem dystopisch angehauchten Jugendroman Beta von Rachel Cohn, der den Auftakt
der Ananda-Serie darstellt. Wie viele Bücher es genau werden, weiß ich derzeit
noch nicht, allerdings habe ich irgendwo etwas von vier Büchern gelesen. Die
1968 in Maryland geborene Rachel Cohn verfasst normalerweise zusammen mit David
Levithan warmherzige Erzählungen für Jugendliche und wurde diesbezüglich etwa
für Nick & Norah - Soundtrack einer Nacht für den Deutschen
Jugendliteraturpreis nominiert. Mit der 2012 erschienenen Originalausgabe von
Beta geht sie also in eine ganz andere Richtung.
Ananda kannte ich bisher aus dem Sanskrit. Es bedeutet übersetzt etwa die
Abwesenheit von Unglück. Im Umkehrschluss also Glück. Das lässt mich für
Elysia hoffen. Die kommt nämlich als Teenager-Klon zur Welt, noch dazu in einer
Beta-Ausführung. Glück ist also nicht unbedingt für sie vorherbestimmt.
Dennoch geht es ihr anfangs auch nicht schlecht. Kurz nach ihrer Geburt wird
sie, obwohl sie eine ungetestete Beta-Version ist, verkauft. Sie muss in einer
traumhaften paradiesisch-perfekten Inselkulisse zwar nicht im eigentlichen Sinn
arbeiten, aber als Gesellschafterin ihrer Mutter und Gespielin ihrer
Geschwister dienen und gefallen.
Dass die Realität anders aussieht, merken neben Elysia auch Cohns LeserInnen
schnell. Bereits der erste Satz (auf den ich normalerweise wenig gebe) - Sie
will mich kaufen - zog mich in seinen Bann. Und die Autorin schaffte es durch
das ganze Buch hindurch, meine dadurch erwachte Neugier aufrecht zu halten. Mit
ihrem Verkauf steht Elysia über den niederen Dienstboten-, Handwerker- oder
sonstigen Arbeiterklonen. Dennoch ist sie weit weniger wert als ein Mensch.
Das Ganze spielt in der Zukunft auf der Erde, die allerdings trotz einiger
Ähnlichkeiten ein wenig verändert ist. Eine große Flut und Wasserkriege haben
ihr Antlitz verwandelt, die Technik ist (man sieht es bereits an den Klonen)
weit fortgeschritten. Die Menschen sind teils genetisch optimiert und haben
Cyborg-Eigenschaften - einen Relay-Screen unter der Haut des Unterarms, der
telekommunikativen Zwecken dient und Smartphones, Tablets und Konsorten ersetzt.
Da die Klone sehr menschlich wirken, werden sie durch Tätowierungen an der
Schläfe und fuchsiafarbene Augen gekennzeichnet, darüber hinaus wird ihnen ein
Ortungs- und Datenchip eingepflanzt.
Das Cover (das von cbt zeigt ein anderes Gesicht als das amerikanische Original,
ist ansonsten jedoch gleich) passt also sehr gut, deutet es doch in seiner sanft
wirkenden Ausführung auf die durch Manipulation entstandenen
paradiesisch-schönen Eindrücke hin, die einem im Buch erwarten, und lässt
durch den direkten Blick doch anklingen, dass Elysia nicht so seelenlos ist, wie
sie sein soll.
Demesne, der Haupthandlungsort im ersten Band der Ananda-Serie, ist eine Insel.
Die Luft wird mit speziellen Filtern gereinigt, das Meer darum herum ist
verändert und wirkt wie ein Jungbrunnen. Sogar Haie sind so modifiziert, dass
man sie als Streicheltiere benutzen kann. Auch die dort lebenden Menschen sind
auf den ersten Blick perfekt, immerhin sorgt das Meerwasser dafür, dass sich
Alterserscheinungen oder Folgen von Fehlernährung etwas abmildern lassen.
Immenser Reichtum hat dieses Inselparadies geschaffen. Es gibt noch ein paar
kleinere Atolle um Demesne, bevor die raue Wirklichkeit in Form eines
unberechenbaren Meeres beginnt. Doch sieht man von kleineren Abstechern auf
besagte Atolle ab, wird die übrige Welt außerhalb Demesnes in Beta nur
erwähnt.
Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass das Paradies zu existieren aufhört, wenn
Menschen es betreten. Und das wird in Beta vollumfänglich bestätigt. Die
Menschen, die nach Demesne kommen, sind reich. Alle anderen haben dort
eigentlich nichts zu suchen. Die wenigen menschlichen Diener, die anfangs in das
Ferienparadies mitgebracht wurden, erlagen bald der perfekten Schönheit der
Insel. Das daraus entstehende Dolce-far-niente-Verlangen war den reichen
Grundstücksbesitzern ein Dorn im Auge, weshalb sie auf die Erschaffung und den
Erwerb von Klonen auswichen. Mit diesen können sie nach eigenem Gutdünken
verfahren und sie straffrei töten, wenn es ihnen in den Sinn kommt. Defekte
Klone müssen auf eine Krankenstation, wo sie vor ihrer Eliminierung noch
maßlos gequält werden. Ein Defekt wäre etwa eine eigene Meinung, Aufbegehren.
Das weiß Elysia allerdings noch nicht, als sie gleich eingangs ein
erschreckendes Erlebnis auf der Krankenstation hat, die unmittelbar neben ihrer
Geburtsabteilung liegt.
Das Paradies hat also einen hohen Preis. Unwillkürlich kommt die bedrückende
Frage auf, wo das menschliche Grundmaterial für die Klone herkommt. Ob alle
Verstorbenen eines natürlichen oder eines überraschenden Unfalltodes gestorben
sind. Oder ob Menschen gezielt ausgesucht und ausgeschaltet wurden, weil sie
vielleicht gut aussahen, jemandem im Weg waren oder als Andersdenkende
gefährlich werden konnten. Oder weil sie arm sind. Manche verkaufen ihre
Körper nämlich auch, damit das Überleben ihrer Familie gesichert ist.
Vordergründig geht es um das Erkennen Elysias. Dass Fehler und Schwächen von
Klonen anders bewertet werden, als bei Menschen. Dass wenn zwei das Gleiche tun,
es noch lange nicht dasselbe ist. Dass ständig ein tödliches Damoklesschwert
über den Klonen schwebt. Aber auch, dass andere Klone und sogar Menschen an dem
auf der Insel vorherrschenden Prinzip zweifeln und dagegen ankämpfen.
Ausgelöst wird dies durch Erinnerungen ihrer First - also des Teenagers, der
zuvor im Grunde genommen sterben musste, damit sie einen Körper hat. Etwas was
es gar nicht geben dürfte also, denn Erinnerungen sind genauso wie Gefühle
unmöglich. Ein Klon hat ohne nachzudenken oder zu werten das zu tun, was von
ihm verlangt wird und sonst nichts.
Genau wie in Spielbergs AI - Künstliche Intelligenz aus dem Jahr 2001 wird die
Geschichte aus der Sicht des Klons erzählt. Das geschieht jedoch nicht
melodramatisch verkitscht. Im Buch kommt Elysia selbst zu Wort. Und so erfahren
Cohns LeserInnen quasi aus erster Hand, was schief laufen kann und welche
emotionalen Folgen es für einen Klon hat, der erkennt, dass er ganz
offensichtlich defekt ist und trotzdem überleben möchte. Und damit noch nicht
einmal alleine ist.
Die Autorin gestaltet die noch unproblematische Zeit nach Elysias Geburt
interessant und humorvoll. Das Entdecken der Insel genauso wie das Ausbauen der
auf ihrem Chip vorprogrammierten aber sehr beschränkten Wissensdatenbank.
Schnörkellos geht die Autorin darauf ein, dass ein Klon keine Gefühle haben
darf, seinem Besitzer gegenüber jedoch solche durchaus durch Gestik, Mimik und
Worte auszudrücken lernen muss. Eine klitzekleine Schwäche gibt es dabei. Der
war in diversen Szenen eingangs enthalten. Da ihre Wissensdatenbank zu diesem
Zeitpunkt quasi nur Grundlegendes beinhaltet hat, wirkten manche ihrer Ansichten
nicht unbedingt falsch, aber auch nicht ganz richtig und irgendwie vorgegriffen.
Das lässt sich nicht allein mit Elysias Andersartigkeit erklären. Und auch
später gemachte Ausführungen zu hormonellen Veränderungen und ihren Folgen
wirken nicht durchweg schlüssig. Allerdings hilft der leicht lesbare
Schreibstil über diese kleinen Schwächen hinweg. Auch die kurz gehaltenen
Kapitel sorgten dafür, dass ich förmlich durch die Seiten flog.
Nicht alle Charaktere, die mir darin begegneten, waren liebenswert. Eigentlich
sympathische Figuren wurden plötzlich unberechenbar. Durch Elysia lernte ich
kaltherzige und scheinbar allmächtige Herrenmenschen und verzweifelte, macht-
aber nicht zwingend mutlose Klone kennen. Unerbittliche Eltern, aber auch
solche, die alles für ihr Kind tun wollten und sich dafür sogar selbst
betrogen. Jugendliche, die der perfekten Langeweile auf Demesne entkommen
wollten. Kinder, die in ihrer Gefühlswelt keinen Unterschied zwischen Klonen
und Menschen machten. Figuren also, die menschlich-authentisch wirken und mit
real anmutenden Problemen kämpfen. Egoismus, Ehebruch, Missbrauch,
Drogenkonsum, Notwehr und Mord, unerwiderte Gefühle, schmerzhafte Verluste und
scheinbar aussichtsloser Widerstand sind nur einige davon. Dennoch spielt
Gewalt, obwohl sie latent in allerlei Variationen durchschimmert, eine
untergeordnete Rolle in Cohns Roman. Elysia, die anfangs in ihrer Lernphase noch
zerbrechlich und naiv wirkt, lernt schnell dazu. Und noch bevor der erste Band
zu Ende ist, trifft sie aus Verzweiflung eine Entscheidung, die sie in
Lebensgefahr bringt.
Fazit
Beta als Figur und als Roman ist nicht vollkommen perfekt. Manchmal agieren die
Figuren nicht ganz nachvollziehbar, manches war vorhersehbar. Die überraschende
Wende am Schluss erschwert aber die Wartezeit auf den Folgeband. Insgesamt hebt
sich Cohns Auftaktband für mich eindeutig aus der Masse sonstiger Dystopien
heraus. Ähnlich wie Sara Grant in ihrem Roman Neva lenkt Cohn den Blick auf
kritische Probleme einer respektlosen Gesellschaft, die in ihrem Egoismus die
Achtung vor Individuellem verloren hat. Ihr Roman wühlt auf, mehr als andere
futuristische Dystopien, und macht nachdenklich. Dabei kommen überraschende
Wendungen und auch ein dezenter Humor (der durch Elysias unschuldiges
Nichtwissen entsteht) nicht zu kurz. Der Roman wird nicht durch eine
reißerische, absolut entmutigende oder temporeiche Handlung getragen. Er
erschüttert vielmehr durch beängstigende Andeutungen und fesselt durch eine
dichte Atmosphäre. Nicht nur das jugendliche Zielpublikum, sondern auch
deutlich ältere LeserInnen wie mich. Trotz kleinerer Schwächen möchte ich
deshalb die volle Punktzahl dafür vergeben.
Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)
Vorgeschlagen von Ati
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veröffentlicht am 07. März 2013 2013-03-07 08:07:12