Kein klassischer Krimi und einer der eventuell etwas Durchhaltevermögen
benötigt - doch es lohnt sich....
Die 1951 in York geborene britische Autorin Kate Atkinson ist Trägerin des
britischen Verdienstordens MBE (Order of the Britisch Empire), der sowohl
zivilen wie auch militärischen Personen sowie Bürgern nicht britischer Staaten
verliehen wird. Atkinson, die Englische Literatur und Amerikanistik studierte,
kam Mitte der 1980er zum Schreiben. Nach Erzählungen versuchte sie sich an
Romanen, in denen die Figuren häufig mit Problemen kämpfen, die sie an die
Grenzen ihrer Möglichkeiten bringen. Mit dem Roman Case Histories (Die vierte
Schwester), erschuf die Autorin die Figur des Privatdetektivs Jackson Brodie und
wandte sich dem Krimi-Genre zu, ohne direkt Krimis zu verfassen (Quelle
Wikipedia). Dem 2004 erschienen Auftaktroman um den behäbigen Privatermittler
folgten bis 2010 drei weitere Bücher. Die BBC verfilmte bislang die ersten drei
Romane der Reihe. Der vierte Band Started early, took my dog erschien 2010. Die
deutsche Übersetzung Das vergessene Kind wurde 2011 von Droemer als Hardcover
und 2012 von Knaur als Taschenbuch herausgegeben. Der Roman erreichte unter
anderem jeweils den dritten Platz beim Deutschen Krimi Preis International und
auf der KrimiZEIT-Bestenliste. Außerhalb der Brodie-Reihe wurden von der
Autorin seit 1995 vier weitere Romane, Kurzgeschichten, Erzählungen und ein
Theaterstück veröffentlicht, die teilweise ebenfalls mit Preisen bedacht
wurden.
Doch zum Roman, in dem eine ehemalige Polizistin sich damit überrascht, dass
sie kurzerhand ein Kind kauft. Eigentlich nur, um dieses vor der vermeintlichen
Mutter zu retten, die nicht nur drogensüchtig ist, sondern der bereits mehrere
Kinder weggenommen wurden. Gleichzeitig beginnt Jackson Brodie in einem dreißig
Jahre alten Fall zu recherchieren, an dem Tracy während ihrer
Polizistenlaufbahn beteiligt war. Dieser unglückliche Zufall jagt Tracy
zusammen mit ihrem schlechten Gewissen bezüglich ihres Spontankaufs in die
Flucht.
Diese kurze Inhaltsangabe klingt genau, wie die auf der Buchrückseite, sehr
strukturiert. Doch obwohl ich Atkinson nicht unterstellen möchte, ihren Roman
unstrukturiert abgefasst zu haben, liest er sich längst nicht so glatt, wie ich
das für gewöhnlich bevorzuge. Deshalb musste ich das Buch auch zwei Mal von
vorne beginnen. Das lässt sich übrigens lesen, ohne dass man die
Vorgängerbände kennt. Ich persönlich habe lange Zeit gar nicht registriert,
dass ich einen Roman aus einer Buchreihe in Händen halte.
Die Autorin ist bereits dafür bekannt, dass sie mehrere parallele
Handlungsfäden in ihren Geschichten verarbeitet, die sich lose durch ihre Plots
ziehen und spät zusammengesponnen zu teils überraschenden Lösungen führen.
Das wusste ich jedoch eingangs noch nicht. Hinzu kommt, dass sie überaus
detailverliebt Worte aneinanderreiht, die erst einmal nichts zum eigentlichen
Handlungsgeschehen beitragen, die Atmosphäre aber auch nicht zwingend
verdichten. Kurze Kapitel, die sich von Anfang an immer wieder um eine andere
Figur drehen, wirken wild zusammengewürfelt und ohne eigentlichen Zusammenhang.
Dass Jackson Brodie die eigentliche Hauptfigur des Romans ist, fällt nicht auf,
denn im Grunde kommen alle Figuren gleichermaßen ausführlich in ihrer
Gedankenwelt beschrieben doch etwas blass daher. Vieles uferte anfangs so sehr
für mich aus, als dass mich die eigentlich spannende Grundidee fesseln konnte.
Das lag auch daran, dass lebendige Dialoge fehlen. LeserInnen erleben die
Gedanken der Figuren als Monologe in deren eigenen Kopf mit. Das wirkt manchmal
hölzern, enthält jedoch durchaus eine Art unterkühlter Komik. Und dann
wiederum berührt es auf überraschende Weise, wenn man schon gar nicht mehr
damit rechnet.
Die Geschichte spielt auf zwei Zeitebenen und wird aus zahlreichen Perspektiven
erzählt. Sie beginnt im England der 1970er-Jahre, als Tracy gerade ihre
Polizistenlaufbahn begonnen hat. Bei der Entdeckung einer ermordeten
Prostituierten wird ein kleines Kind gefunden, das danach in der Versenkung
verschwindet. Die zweite Zeitebene handelt 30 Jahre später. Tracy ist längst
aus dem Polizeidienst ausgeschieden, arbeitet als Warenhausdetektivin, lebt
alleine - bis eben zu jenem Tag, an dem sie das kleine Mädchen kauft. Dazu
gesellen sich die Handlungsstränge um eine demente Schauspielerin, um eine
Sozialarbeiterin, um diverse Polizisten. Und um Jackson Brodie selbst, der
herauszufinden versucht, woher seine australische Auftraggeberin kommt, die
offenbar in den 1970ern in England geboren wurde, gleichzeitig offiziell aber
gar nicht zu existieren scheint.
Es dauerte geraume Zeit, bis ich mich auf Atkinsons Schreibstil einstellte und
plötzlich dabei ertappte, wie ich neugierig die Seiten umblätterte.
Erzählfragmente begannen sich unspektakulär, aber unaufhaltsam, vor meinen
Augen zusammenzufügen. Die auf den ersten Blick wild zusammengewürfelten
Figuren sind alle miteinander durch mehr als ein Drama, mehr als ein Geheimnis,
mehr als einen Mord, mehr als eine unglückliche Familie und trostlose
Lebenswege sowie unerfüllte Träume oder Lebenslügen verbunden. Atkinsons
Charaktere gehören samt und sonders nicht zu den Gewinnern. Sie lässt sie
einiges durchmachen und geht nicht sonderlich zartfühlend mit ihnen um. Dafür
stimmt sie sie sukzessive aufeinander ab. Unversehens ertappte ich mich dabei,
wie ich mit ihnen gefühlt, gelitten und gehofft habe.
Der Roman ist zugegebenermaßen nicht ganz ohne Längen, die man vor der Kulisse
menschlicher Tragödien und Abgründe nicht erwartet. Dennoch kam das Ende
letztlich viel zu schnell. Obwohl dabei längst nicht alle Handlungsfäden
schlüssig abgeschlossen werden (vielleicht weil der Roman eben doch Teil einer
Reihe ist?), wirkt der Roman nicht unbefriedigend unvollendet.
Fazit
Eine nicht ganz einfache, gesellschaftskritische Geschichte, bei der sich
Durchhalten lohnt. Wer schnelle und vor allem einfach strukturierte
Handlungsentwicklungen bevorzugt, dem rate ich, die Finger vom Buch zu lassen.
Wer auf reißerisch-blutige Passagen hofft, wird sie in diesem Krimi auch nicht
finden. Dafür regt Atkinsons Roman leise und unaufgeregt zum Nachdenken an und
wird sicherlich nicht der Letzte sein, den ich von dieser Autorin lese.
Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)
Vorgeschlagen von Ati
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veröffentlicht am 02. März 2013 2013-03-02 17:47:17