"Der Märchenerzähler" von Antonia Michaelis reizte mich, weil es
2012 auf der Nominierungsliste der Jugendjury des deutschen
Jugendliteraturpreises stand. Worum geht es? Die 18-jährige Anna verliebt sich
Hals über Kopf in den geheimnisvollen und undurchschaubaren Abel Tanatek,
"polnischer Kurzwarenhändler" genannt, der mit ihr einige Kurse
besucht. Besonders imponiert ihr, wie er sich um seine kleine Schwester Micha
kümmert. Abel reagiert zunächst kühl und abweisend auf Annas Interesse und
will sie nicht in seine Welt lassen. Doch allmählich schmilzt das Eis zwischen
beiden. Dass Anna sich dabei in Gefahr begibt, ahnt sie nicht....
Antonia Michaelis kann spannend schreiben. Die Erzählperspektiven wechseln
zwischen verschiedenen Figuren der Handlung. Antonia Michaelis besticht durch
gekonnten Spannungsaufbau, wie er beispielhaft im ersten, aber auch im
vorletzten Kapitel vorgeführt wird und den Leser buchstäblich "den Atem
stocken" lässt.
Aber:
Dies alles hätte Anlass für einen spannenden Thriller werden können, doch
meines Erachtens vertut Antonia Michaelis diese Chance. Denn um die Handlung
voranzutreiben, stattet sie Protagonistin Anna mit einer Naivität aus, die
meines Erachtens in der heutigen Zeit unrealistisch ist. Dies mag am Anfang noch
nicht stören (ich finde es nachvollziehbar, dass Anna von der lebensecht
gezeichneten kleinen Schwester Abels, Anna, fasziniert ist und Abel vor allem
mag, weil er sich um diese Schwester kümmert). Was ich ihr allerdings nicht
abnehme ist, dass Anna auch nach ihrer Vergewaltigung durch Abel (auch wenn
dieses Wort im Roman nicht fällt) nicht "aufwacht" und weiter zu ihm
hält, ihm gar verzeiht. Dies konnte ich nicht nachvollziehen. Für mich ist das
Verhalten der Protagonistin Anna fast nicht mehr Liebe, sondern
"Hörigkeit".
Außerdem habe ich die Motivation Abels, sich auf Anna "einzulassen"
und seine ablehnend-reservierte Haltung ihr gegenüber aufzugeben, nicht
nachvollziehen können. Ob es sich - wie im Klappentext angedeutet - daher
tatsächlich um eine Liebesgeschichte handelt, ist m.E. wirklich
Definitionssache.
Und auch angesichts der weiteren Handlung - Abel wird zum Doppelmörder - bleibt
zu fragen, warum Anna aufgrund dieser Entwicklungen so spät
"aufwacht" und ihm am Ende sogar noch diese Morde
"verzeiht". Problematisch finde ich, dass dadurch die Taten Abels
letztlich bagellisiert werden. Lässt sich durch Liebe (oder doch wohl besser:
"Hörigkeit") einem Mörder gegenüber alles rechtfertigen?
Vergewaltigung, Handel mit Drogen, Mord? Diesen Eindruck hatte ich nach der
Lektüre. Ich hätte mir in jedem Fall eine "emazipiertere",
selbstbewußtere "Heldin" gewünscht, wie sie im Buch selbst nicht
durch Anna, sondern durch ihre Freundin Gitta dargestellt wird.
Fazit
Fazit: So bleibt der Gesamteindruck für mich zwiespältig: Liebe - oder
Hörigkeit -rechtfertigen bedingungslose Loyalität einem Verbrecher gegenüber
- zumindest habe ich Annas Verhalten am Ende des Buches, als sie Abel alles
vergibt und verzeiht - so empfunden. Mit dieser "Botschaft" -
zumindest habe ich dies so empfunden - habe ich massive Probleme, auch wenn das
Buch ansonsten durchaus spannend geschrieben ist.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 17. Januar 2013 2013-01-17 22:54:52