Der Historiker Gregor Schöllgen hat sich als ausgewiesener Experte
bundesdeutscher Geschichte einen Namen gemacht. Werke über die Außenpolitik
der Bundesrepublik und über die deutsche Außenpolitik seit Friedrich dem
Grossen weisen ihn als kompetent und kenntnisreich aus.
Daher war ich sehr gespannt auf die Brandt-Biographie, die meinen Erwartungen
allerdings nicht gerecht wurde. Sie ist viel zu kurz, die Schwerpunkte sind
unglücklich gewählt und behandeln insbesondere die Zeit als
Bundesaußenminister und als Bundeskanzler zu kursorisch (nämlich auf 82 Seiten
von 320). Wer über diese wichtige Zeit zwischen 1969 und 1974 mehr erfahren
möchte, der sollte das noch heute bahnbrechende Werk "
Machtwechsel" von Arnulf Baring
aus dem Jahre 1981 heranziehen. Hier entsteht ein plastisches Bild Willy
Brandts.
Nun können dem Historiker Schöllgen keine sachlichen Fehler nachgewiesen
werden; die verfügbaren Quellen - aus dem Willy Brandt Archiv - hat er
ausgewertet, unter anderem den Briefwechsel mit Helmut Schmidt vom November
1982, der ein Licht auf die beiderseitigen Beziehungen seit den 1970-ger Jahren
wirft.
Trotz allem enttäuscht das Werk, weil es den Menschen Willy Brandt nicht
nahebringt. Der Autor hat keine Struktur, er schafft es nicht, in seiner -
relativ schmalen Biographie - wesentliche von unwesentlichen Sachverhalten zu
trennen. Fazit: Ich empfinde die vorliegende Biographie als
"seelenlos", gerade bei diesem einfühlsamen und einsamen Menschen -
egal, wie man zu ihm stehen mag. Ein Beispiel für eine gewisse
Oberflächlichkeit sei hier gegeben: so wird der Einfluss seiner Umgebung wird
zwar skizziert, Folgerungen (etwa über den Einfluss Brigitte Seebacher-Brandts)
bleiben jedoch aus. So heißt es zwar auf S. 230, ihr Einfluss sei enorm, aber
dies war es dann auch. In welcher Weise er sich auswirkte, wird nicht gezeigt.
Zwar würdigt Schöllgen das Format Willy Brandts, insbesondere am Ende seiner
Biographie und bilanziert am Ende: "Die Schwächen Willy Brandt waren seine
Stärke"; dennoch fehlt mir gerade diese - bei Brandt doch äußerst
wichtige - Wechselwirkung zwischen Persönlichkeit und Erfolg. Vereinzelte
Ansätze wie: "Willy Brandt hat das Herz des Volkes gewollt und er hat es
erobert, weil er gelitten hat" (S. 212) genügen mir hier nicht. Zu
nüchtern ist meines Erachtens diese Biographie abgefasst.
Fazit
Dieses Werk ist aus meiner Sicht enttäuschend und kommt dem Menschen Brandt
nicht nahe. Seine Zeit als Außenminister und Bundeskanzler 1966-1974 wird - wie
bereits erwähnt - viel zu kurz dargestellt. Wer sich intensiver mit Brandt
beschäftigen möchte, sollte zu Barings "
Machtwechsel" oder der neuen
Brandt-Biographie von
Merseburger greifen.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 08. November 2003 2003-11-08 17:29:24