Donna Leon hat erneut einen äußerst gesellschaftskritischen Kriminalroman
geschrieben. Er versetzt den Leser zurück in die Zeit des Faschismus. Dort
wurden Regimegegner gezwungen, wertvolle Kunstgegenstände weit unter Wert an
interessierte faschistische Funktionäre zu verkaufen. Nur dann hatten die
Verkäufer die Chance, ungeschoren, d.h. ohne Verhaftung, die faschistische
Diktatur zu überstehen. Um diesen Themenkomplex dreht sich Donna Leons 11. Fall
um den venezianischen Commissario Brunetti. Wie immer besticht Donna Leon, deren
Krimis wegen ihrer scharfen Sozialkritik nicht in Italien erscheinen dürfen,
durch lebesecht gezeichnete, differenzierte Charaktere. Eine wichtige Person,
den über 90-jährigen Anwalt Filipetto, meint man wie im Film vor sich zu
sehen. Die Kunst der Charakterzeichnung und der Darstellung der Schwächen der
italienischen Gesellschaft fasziniert auch in diesem Roman, der zweifelsohne
Donna Leons erzählerische Kraft beweist.
Nichtsdestotrotz war ich nach dem Lesen enttäuscht. Der Plot selber ist zwar
kunstvoll gewebt, jedoch gerade deshalb wirkt er auf mich fast surreal und zu
weit hergeholt. Einige Dinge werden auch nur angedeutet, bleiben letztlich auch
offen. Warum das Opfer, Claudia Leonardo, noch zu Lebzeiten ihrer
Adoptivgroßmutter ein Erbe ausgezahlt erhält, ist mir nicht klargeworden.
Auch, warum sie letztlich Commissario Brunettis Frau Paola und auch ihn um
Auskunft in dem Fall um ihren - ihrer Meinung nach zu Unrecht verurteilten -
Großvaters bittet, läßt sich durch die relativ kurz gehaltene Aufklärung nur
erahnen. Die atmosphärische Dichte und die - wunderbare - Zeichnung der Figuren
gleicht diese Mängel in der Handlungsstruktur meines Erachtens nicht aus.
Außerdem fehlen völlig die - in den anderen Bänden vorhandene - wunderbare
Beschreibung Venedigs und ich habe die - durchaus spannungsgeladene - Beziehung
zu Brunettis Vorgesetztem Patta, für mich immer das "Salz" in der
Suppe, vermisst. Dieser kommt nur in einer Szene ganz nebenbei vor, während
sich die in den ersten Bänden als eher tumb und einfältig gezeichnete
Sekretärin Pattas,Signora Elettra, als immer wertvollere Helferin Brunettis
erweist. Letztlich sind es ihre - nicht Brunettis - Recherchen, die den Fall
lösen. Eine erstaunliche Entwicklung dieser Figur, die für mich so aus den
ersten Bänden nicht vorhersehbar war.
Außerdem bin ich der Meinung, dass der ganze Band auf mich zu langatmig wirkt -
ich finde, er hätte rund hundert Seiten kürzer sein können, ohne an Substanz
zu verlieren. Ich habe mich häufig zwingen müssen, weiterzulesen und hatte
Mühe, den "roten Faden" zu entdecken. Nun ist die Spannung des
Thrillers nicht Donna Leons Stärke - ihre Krimis wirken durch die Zeichnung von
Charakteren und einer gewissen Ruhe, die wie in Zeitlupe gezeichnet scheint.
Aber hier wirkt dies langatmig, da die Beschreibungen Venedigs fehlen (der Ort
wird hier nur als lästiges Touristenzentrum beschrieben) und dies ist für mich
- gegenüber den früheren Bänden - ein großes Manko.
Fazit
Ein durchaus interessantes Thema ist zu langatmig beschrieben und der Plot
stellenweise undurchsichtig bzw. für mich an einigen Stellen nicht ganz
nachvollziehbar. Trotz unbestreitbarer atmosphärischer Dichte und
differenzierter Charakterzeichnung (der Stärke Donna Leons) fehlen wichtige
"Erfolgsfaktoren" der früheren Bände - die früher vorhandene
wunderbare Beschreibung Venedigs und die durchaus humorvolle Spannung Brunetti -
Patta, der zu einer reinen Nebenfigur degradiert wird. Insofern ein für mich
etwas zwiespältiger Gesamteindruck.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 03. November 2003 2003-11-03 01:16:26