Kurz nach der Wende konnte man am Freizeitverhalten Berliner Studenten ihre
Herkunft erkennen. Die aus dem Westen Zugezogenen waren am Abend in Kneipen und
Clubs in Prenzlauer Berg unterwegs, während ihre Berliner Kommilitonen mit dem
Ostteil der Stadt noch fremdelten. Die Identitätskrise der Westberliner ist
verständlich, war doch für sie fast 30 Jahre lang rund um die Stadt
"Osten" gewesen. Nur nach Antrag auf einen "Berechtigungsschein
für den Empfang eines Visums" und 25DM Zwangsumtausch in Ostmark konnten
Westberliner nach Ostberlin - für Schüler und Studenten ein teurer Spaß.
Ihren nostalgischen Rückblick auf das ehemalige Westberlin hat Ulrike Sterblich
(*1970) wie ein Stadtplan-Puzzle aus vielen Einzelteilen aufgebaut. Vom
Lebensgefühl der Zwanzigjährigen kurz nach der Wende schlägt die Autorin eine
elegante Kurve zu ihrer Schulzeit an einer katholischen Schule, auf ihre Sicht
von außen während ihres Austauschjahrs im mittleren Westen der USA und zurück
ins wiedervereinigte Berlin (zwei Städte gleichen Namens), das sie nach einem
Jahr rasant verändert erlebte. Sterblichs Stadtrundgang folgt zunächst ihrem
Schulweg per U-Bahn, später dem wachsenden Radius der Kino- und Fetengängerin
in der Stadt. Bemerkenswert finde ich die Normalität dieser Jugend an einer
katholischen Schule, die ihre konsequente Haltung gegen "Hitzefrei"
selbst am Tag der Wende stur durchzog. Die Weltpolitik könnten die Schüler
auch nach Schulschluss noch verfolgen, verkündete die Schulleitung. Einen
Fixpunkt in Sterblichs Biografie bildet ihre katholische, kinderreiche Familie
mütterlicherseits. Die Großeltern zogen in Neukölln (dem Neukölln, das heute
öffentlich Heinz Buschkowsy vertritt) in einer Zweizimmerwohnung acht Kinder
auf. "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" nimmt die Autorin als
Unterrichtsstoff wahr, der trotz der allgegenwärtigen Fixer in der U-Bahn mit
ihrem Leben wenig zu tun hat. Sehenswürdigkeiten, die man als Weltstädter
stolz Besuchern zeigt, und die durch den Mauerbau entstandene bizarre
Zwischenwelt aus ungenutzten Bahnanlagen fügen sich zu einem Berlin-Bild, das
dem eines alternativen Reiseführers nahekommt. Das "Kalunk, Kalunk"
der Transitautobahn und Rutschpartien auf Filzpantoffeln im Schloss
Charlottenburg stehen stellvertretend für Berliner Kindheiten der 80er Jahre.
Auch die Begegnung mit Sterblichs Mutter hat hohen Wiedererkennungswert. Die
Diskussion, warum die Tochter ohne Winterstiefel in die USA gefahren ist, wird
ähnlich in vielen Mutter-Tochter-Beziehungen ablaufen. "Mama hier geht
niemand zu Fuß, hier braucht man keine Stiefel" - der interkulturelle
Horizont ist auch bei einem Besuch im mittleren Westen der USA erweiterbar.
Fazit
"Schön wa?", fragt der Berliner - für "Die halbe Stadt, die es
nicht mehr gibt" gilt das unbedingt.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 04. Oktober 2012 2012-10-04 10:57:41