An Zolas "Ich klage an" fühlte ich mich erinnert, als ich dieses Buch
über Angela Merkel las. Die Quintessenz dieses Buches ist nicht neu: Angela
Merkel hat keinerlei Visionen oder Überzeugungen, sie hat lediglich ein Ziel:
Machteroberung und Machterhalt für sich selber. Frau Merkel habe für sich
entschieden, nie mehr zu den Opfern zu gehören, als die sie sich in der DDR
gefühlt habe, obwohl sie nie den Wunsch nach Freiheit verspürt habe - wie ihr
großer Antipode Gauck, sondern sich geschickt mit dem System arrangiert habe.
Es habe noch nie eine Kanzlerin gegeben - so Frau Höhler in Anlehnung an
Spiegel Essays "Im Zweifel links" von Freitag-Chefredakteur Jakob
Augstein - die ihr gesamtes politisches Handeln dem Ziel des eigenen
persönlichen Machterhaltes geopfert habe.
Diese Beobachtung ist sicherlich zutreffend und richtig. Sie wird auch durchaus
zutreffend begründet. Das Buch besticht durch Beobachtungen, die zusammen ein
Puzzle ergeben - Merkels Hang zur Intransparenz, ihr respektloser Umgang mit
anderen Menschen und Institutionen (etwa Röttgen oder dem
Bundesverfassungsgericht in der Euro-Krise), die durchaus in dem sehr emotional
geschriebenen Buch begründet werden. Insofern ist das Buch durchaus stimmig.
Auch die These, dass Merkel versucht, Themen der Opposition
"aufzusaugen" um deren Erstarken zu verhindern, ist sicherlich
korrekt. Höhler interpretiert etwa die Wende von Frau Merkel nach Fukushima in
der Energiepolitik, an der sie kein gutes Haar lässt, rein machtpolitisch: die
Grünen sollen dadurch ihres Kernthemas entledigt werden.
Dies - so Frau Höhler - schaffe letztlich Einheitsparteien, wie es die SED in
der DDR war. Frau Merkel sei viel stärker, als dem Westen bewußt sei, durch
die DDR geprägt worden.
Auch diese Beobachtung ist sicherlich zutreffend.
Nur: es fehlt in dem Buch die tiefere Analyse, warum dies so ist. Das, was
Kershaw in seiner Hitler-Biographie so schön herausgearbeitet hat, nämlich,
dass die obrigkeitsstaatliche Orientierung der Deutschen Hitlers Aufstieg und
Herrschaft erleichtert haben, gilt in gewisser Weise auch in der heutigen
Demokratie. Die Mehrheit der Deutschen mag offensichtlich Merkels präsidialen
Stil, der Konflikte vermeidet. Nur so sind die hohen Popularitätswerte der
Kanzlerin zu erklären. Es ist also nicht nur das Machtstreben von Frau Merkel,
das so ausgeprägt ist, dass Frau Merkel diesem Aspekt alles andere unterordnet,
es ist auch die Tatsache, dass dies der Mehrheit der Wähler offensichtlich
durchaus recht ist. Den Wählern in ihrer Mehrheit ist - wie vermutlich auch
Frau Merkel - die "Große Koalition" die liebste politische
Konstellation. Ohne die Zustimmung der Bevölkerung in ihrer Wählermehrheit
könnte Frau Merkel nicht so agieren, wie sie agiert. Natürlich ist es schwer,
Frau Merkel abzulösen. Eben weil es mit SPD, Grünen, Linkspartei und
möglicherweise Piraten auf dem linken politischen Spektrum vier Parteien gibt,
die sich nicht einigen, während es bislang noch zu keiner Abspaltung auf dem
rechten politischen Spektrum gekommen ist (etwa einer Stärkung der Freien
Wähler durch die Eurokrise), die die Stellung der Union als strukturelle
stärkste Partei gefährden würde.
Es sind solche Erklärungen, die fehlen und jede Differenzierung vermissen
lassen. Wissenschaftlichen Anspruch kann dieses zornig geschriebene Buch (Motto:
"für alle, die die Faust in der Tasche haben") daher nicht erheben.
Dazu wäre ein gewisses Bemühen um Objektivität oder besser gesagt: ein
Verständnis für die Motive der "anderen Seite" notwendig gewesen.
Auch hierfür ein Beispiel: Röttgen sei entmachtet worden, weil er Merkel zu
ähnlich sei und Merkel dies erkannt habe. Röttgen habe aber entschieden, Frau
Merkel "zu stellen" und ihr die Funktion des Sündenbockes, der
eiskalten Machtpolitikerin, durch die Verweigerung seines Rücktritts
zuzuweisen. Richtig. Aber dazu gehört eben auch, dass Röttgen durch seinen
Versuch, Merkel und ihr Agieren in der Euro-Krise für den von ihm
verantworteten Machtverlust in NRW verantwortlich zu machen, ein Maß an
Illoyalität gegenüber seiner Regierungschefin bewiesen hat, die Merkels
Verhalten durchaus verständlich macht. Davon hört der Leser von Frau Höhler
aber nichts. Röttgen ist in der Darstellung von Gertrud Höhler das
unsczhuldige "Opfer", welches die eiskalte Machtpolitikerin Merkel
abserviert. Das Bild ist populär, stimmig aber zu einseitig, weil Röttgen eben
durchaus nicht unschuldig an seinem Sturz gewesen ist.. Dies gilt auch für Koch
(über dessen Verhältnis zu Merkel kaum gesprochen wird wie auch die Gründe
seines Abgangs nur kursorisch dargestellt werden) und die anderen
"Opfer" Merkels von Merz bis Wulff.
Man kann durch Merkels Politikstil die Demokratie als Regierungsform als
gefährdet betrachten, wie es Frau Höhler tut. Aber dies muss dann näher
begründet werden. Ist Frau Merkel eine heimliche Diktatorin? Ich glaube nicht.
Frau Merkel ist möglicherweise - so denke ich - die erste
"postdemokratische" Kanzlerin (Postdemokratie im Sinne von Colin
Crouchs Definition einer Demokratie, in welcher nicht die Interessen der
Bürger, sondern von Lobbyisten und mächtigen Interessengruppen erfüllt
werden). Leider kommen weder der Name Colin Crouch noch der Begriff
"Postdemokratie" in Höhlers Analyse vor.
.
Fazit
Dies sind einige Beispiele der Schwächen des vorliegenden Buches, welches
dennoch nicht uninteressant ist, vor allem, wenn man die Fülle der
Beobachtungen von Frau Höhler würdigt, die durchaus ein bedenkliches Bild der
Kanzlerin vermitteln. Aber: Analyse und Begründung sind nicht tiefgreifend
genug und daher kann es m.E. nur bedingt überzeugen
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 07. September 2012 2012-09-07 06:56:44