Vom Abendbrot zur Zerrissenheit
"Dies ist ein Buch, in dem du nicht gewarnt wird vor dem Deutschen".
Und: "Wir machen uns keine Sorgen, dass Deutschland sich abschafft. Wir
sehen nur, dass es sich herunterwirtschaftet, sein Gedächtnis
verliert".
Zwei Sätze aus dem Vorwort, die Atmosphäre und Stil des Buches durchaus
zutreffend vorweg beschreiben. Die deutlich machen, dass in positiver,
würdigender Weise die beiden Autoren sich jenem "Gedächtnis"
verhaften, dass in ihren Augen verloren zu gehen droht. Was dieses Land
eigentlich ist, jenseits von "lexikalischer Auskunft", von nüchternen
Fakten. Wie also stellt sie sich dar, die deutsche Seele? Der die Autoren in
vielfacher Hinsicht, alphabetisch in den Themenbereichen geordnet, essayhaft
nachgehen.
Abendbrot und Arbeitswut finden sich neben Bierdunst und Dauerwelle. Doktor
Faust muss ja erwähnt werden, aber auch der Fußball und die Gemütlichkeit.
Gründerzeiten werden betrachtet, die Neigung zum Kitsch ebenso aufgegriffen wie
das Mutterkreuz, das deutsche Pfarrhaus. Aber auch der Schrebergarten findet
sich neben dem Sozialstaat wieder, Winnetou hat seinen Auftritt, der Vater Rhein
fließt langsam durch die Zeilen und die Wanderlust lässt ihren Tritt
erschallen.
Mithin gelingt es den Autoren, eine große Breite der Darstellung aufzunehmen,
von Hochkultur über gesellschaftlich prägende Epochen, von der "deutschen
Gemütlichkeit" hin zum Stammtisch, von Krieg und Frieden bis zur
Landschaftsbetrachtung. Kitsch, Spießigkeit, Bürgertum, intellektuelle Weite
und verengtes Leben, ganz erstaunlich ist es, diese Vielfalt zu lesen und in
jedem einzelnen abschnitt Wiedererkennungserlebnisse zu erhalten. Das alles
gehört tatsächlich dazu, das ist die erste Essenz der Lektüre.
Zudem gelingt es beiden Autoren tatsächlich, den positiven Grundton durchweg
beizubehalten, ohne undifferenziert in Formen von Volksromantik abzugleiten. Im
Kapitel über den "Bergfilm" findet sich so durchaus das Kritische,
das Verherrlichende, das "Riefenstahl" Syndrom, aber eben nicht als
den eigentlichen Tenor des Essays. Welche Sehnsucht diese Filme zu Zeiten
erfolgreich machte, welche Werte mit transportiert wurden in den einfachen
Aussagen, wie der Wunsch nach Harmonie sich darin darstellt und wie es hinter
den Fassaden aussieht unter den Filmschaffenden selbst, das ist schon gut und
informativ zu lesen. Oder die Würdigung der "vier Mütter des
Grundgesetzes", aber auch der intelligente Blick auf die
"Verfasstheit", welche die Verfassung in den Raum zu setzen hatte
lesen sich hoch interessant gerade auf der Blaupause des Nationalsozialismus.
Hier räumen die Autoren durchaus auf mit dem Vorurteil, die "deutsche
Kultur ist nationalsozialistisch".
Das Buch bildet eine gut zu lesende, fundierte, gehaltvolle und ausgewogene
"Mentalitätsgeschichte" der deutschen Kultur und bildet damit ebenso
die Gegenwart mit ab. Jedes der Essays hellt dabei in sich ein stückweit auf,
wie Mentalitäten entstanden sind, worin sie sich ausdrücken und wie diese das
Heute der Gesellschaft in großer Vielfalt prägen.
Fazit
Es steht eben Volksmusik neben Goethe, Schrebergarten neben intellektueller
Weite, Kleinstaaterei und geistige Enge neben der Kulturnation, Bierdunst neben
Forschungsreisen. Interessant zu lesen in dieser Form und dieser
Zusammenstellung.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 11. Mai 2012 2012-05-11 12:08:47