Das vorliegende, von Florian Hassel, dem Korrespondenten der Frankfurter
Rundschau für Russland und die GUS, herausgegebene Sammelband beleuchtet in der
Tat einen Krieg, der im "Schatten" des westlichen Bewusstseins
stattfindet. Hassel und seine Kollegen informieren äußerst kompetent über den
grausamen Völkermord, der durch nichts zu rechtfertigen ist. In seinem Vorwort
verweist Hassel auf die Notwendigkeit einer Aufklärung in einem Land, in
welchem zwei Wirklichkeiten existierten: eine Realität der offiziellen
Erklärungen und Normen sowie eine andere, "wirkliche" Realität der
faktischen Ereignisse, die nur im Schatten existiere und so gut wie nichts mit
den offiziellen Verlautbarungen zu tun habe. Hassel knüpft damit explizit, ohne
ihn beim Namen zu nennen, an Tim Guldimans Untersuchung: "Moral und
Herrschaft in der Sowjetunion" aus dem Jahre 1979 an, die ebenfalls im
Suhrkamp-Verlag erschienen war und das gleiche Phänomen, nämlich die Existenz
unterschiedlicher Werte, Normen und Moralkategorien in der ehemaligen
Sowjetunion konstatiert hatte. Hassel und seine Mitautoren, alles kompetente
Experten auf diesem Gebiet, lassen keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem
Krieg in Tschetschenien um brutalen Völkermord handelt. Sie gehen der
Geschichte des Konfliktes nach, untersuchen detailliert den zweiten
Tschetschenienkrieg, das Verhalten russischer Soldaten in diesem Land, die
Auswirkungen des Krieges auf die tschetschenische Gesellschaft.
Was diesen Band allerdings so interessant macht, ist, dass zudem auch ein Bild
der russischen Gesellschaft entsteht. Jean Sigbert untersucht detailliert in
diesem Sammelband die Medienpolitik von Präsident Putin und belegt darin anhand
zahlreicher Quellen die Gleichschaltung dieser "vierten Gewalt".
Hassel macht im Vorwort deutlich, dass in Tschetschenien alle Probleme Russlands
wie unter einem Brennglas zu besichtigen seien und zeigt dabei auch auf, dass in
Russland eine demokratische Zivilgesellschaft in keinster Weise entwickelt
worden ist: "Bestimmte Institutionen existieren in Rußland zwar schon
lange, aber nur auf dem Papier: der Staat, das Parlament, die
Generalstaatsanwaltschaft, die Gerichte, die Zivilgesellschaft und so
weiter." (S. 7). So entsteht auch ein - bedrückendes - Bild der
gesellschaftlichen Entwicklung Russlands unter Präsident Putin, welches zurück
in die Diktatur führt. Und dieses macht - neben der eindeutigen Qualität der
Beiträge auch englischer und russischer Autoren - den Wert des vorliegenden
Sammelbandes aus. Der Band ist wesentlich strukturierter als die - persönlich
gehaltenen, wenn auch sehr verdienstvollen - Beschreibungen der russischen
Reporterin Anna Politkovskaya und zeigt im Gegensatz zu dieser auch die
größeren Zusammenhänge der Entwicklung des Krieges auf. Interessant auch das
Kapitel: "Tschetschenien und das internationale Recht" von Miriam
Kosmehl, die bilanzieren muss: "Rußland aus strategischen Gründen in den
Europarat aufzunehmen, geschah in der ehrbaren Absicht, das mächtige
post-kommunistische Land in das demokratische Umfeld Westeuropas zu
ziehen...Bisher gilt für die internationalen Antworten auf Tschetschenien: zu
wenig, zu spät, zu inkonsequent und zu ineffektiv." Da es sich - wie die
Autoren detailliert nachweisen, um einen Krieg handelt, der die "Kriterien
des Völkermordes erfüllt" (S.9), wäre der Ausschluss Russlands aus dem
Europarat, wie ihn Frau Kosmehl fordert, die einzig richtige Konsequenz. Doch
dies tut der Westen, welcher diese "vermeidbare Tragödie geschehen und
weitergehen ließ" (so Thomas de Waal, S. 26) nicht und macht sich so
indirekt mitschuldig an einem Krieg, bei welchem - nach zurückhaltenden
Schätzungen! - bei einer Bevölkerung von rund einer Million Einwohner zwischen
50 und 100 000 Zivilisten ums Leben gekommen sind (so Thomas de Waal, S. 16).
Dieses verdeutlicht zu haben, ist das Verdienst dieses unverzichtbaren Buches,
welches ich neben dem im Jahre 2001 erschienenen Werkes über Tschetschenien von
Karl Grobe-Hagel (ISP-Verlag) als wichtigstes deutschsprachiges Buch über den
zweiten Tschetschenien-Krieg bezeichnen würde. Es enthält außerdem ein
hervorragendes kommentiertes Literaturverzeichnis über Bücher und
Internet-Adressen zum Themenkomplex Tschetschenien.
Fazit
Unbedingt empfehlenswert für alle, die sich tiefer mit diesem Konflikt - aber
auch mit dem Zustand der russischen Gesellschaft unter Putin - befassen
möchten.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 16. Oktober 2003 2003-10-16 21:02:06