Hinter den Fassaden
"Immer, wenn er seinen Willen nicht bekommt, führt er sich auf, wie ein
Kind", denkt Aisha irgendwann über ihren Mann Hector. Im ersten Urlaub
ohne Kinder seit langem. Mit äußerst wechselhaften inneren Stimmungen.
Die im Übrigen auch alle anderen Personen des Buches eigen sind. So wie Rosie,
eine von Aishas besten Freundinnen, Frau von Gary, Mutter von Hugo. Mit Verdruss
schaut sie auf ihren oft stark angetrunkenen Mann, schwankt durch ihr Leben,
saugt und hält sich am dreijährigen Hugo fest (wörtlich allerdings saugt
Hector, der immer noch gestillt wird!). "Sie war ein Flittchen. Seit ihr
Vater sie verlassen hat und sie das Haus verloren hatten", das ist Rosies
wahre Meinung über sich selbst und das nicht ganz zu unrecht bei ihrer
bettendurchstreifenden Vergangenheit.
Doch zunächst steht Hector, der dreijährige, der verwöhnte, nicht erzogene,
im Mittelpunkt. Auf einer Gartenparty unter Freunden erhält dieser Hugo eine
schallende Ohrfeige. Von Harry, dem Cousin Hectors, des Mannes der besten
Freundin Aisha, dem als Grieche Familie über alles geht. Zu Recht, meinen die
einen. Welch Skandal, meinen die anderen. Eine Zerreißprobe beginnt, denn Rosie
dringt darauf, Harry wegen Misshandlung anzuzeigen und sie lässt es bis zum
Prozess kommen. Mit Folgen. Für alle.
Folgen allerdings, die noch nicht einmal unbedingt in dieser Ohrfeige ihre
wahren Ursachen haben. Denn alle diese Menschen der australischen Mittelschicht
im Buch (mal mit weniger, mal mit deutlich mehr materiellem Einkommen versehen),
eint eines. Eine unterschwellige, ständig leicht unter der Oberfläche zu
spürende Gewalt. Aggression. Gespeist aus einer tiefen Frustration des Lebens,
ohne diese ganz genau benennen zu können. Zunächst. Und aus einer
Selbstfixiertheit, die umfassende Formen im Lauf des Lebens eingenommen hat.
In ruhiger Erzählweise, gründlich und mit einem sehr präzisen Blick für die
vielfachen Schichten der Persönlichkeit, zieht Christos Tsiolkas die
schützenden Selbstdarstellungen seiner Protagonisten fort und führt den Leser
Schritt für Schritt in die inneren Universen seiner handelnden Personen. Aus
verschiedenen Perspektiven jeweils geht Tsiolkas diesen Weg und spinnt dabei,
eher am Rande, die Geschichte der Ohrfeige und die der eigentlichen Beziehungen
der Personen untereinander fort. Personen, die schnell von einem Gefühl ins
nächste fallen, von Begehren ins angewidert Sein (so wie Hector, der noch am
Tag der Party seine jugendliche Geliebte voll Verlangen aufsucht und wenige
Stunden später die Liaison genauso leicht beenden kann), von Verzweiflung in
Aggression, von Verständnis zur Gefühlskälte. In allem zeigt sich, einen
wirklicht tragfähigen Grund, eine Sicherheit zu sich selbst, das haben all
diese Personen nicht.
Damit gelingt Tsiolkas in einfacher, moderner Sprache (ohne sich je
umgangssprachlich zu verirren) ein Portrait der Gegenwart, das in den Sog zieht
und.
Die ständige Suche nach dem "Außen", nach einem Halt, verbindet die
Personen des Buches mit einer ganzen Lebensart, die letztlich unruhig immer
zurücklässt. Hector, der alles hat und doch die Finger von jungen Frauen nicht
lassen kann. Aisha, seine Frau, die sich aufgerieben sieht zwischen ihrer
Freundschaft mit Rosie und der Loyalität zur Familie ihres Mannes. Harry,
mittlerweile wohlhabender Mechaniker und ständig kurz vor der Explosion. Anouk,
die Medienfrau, zweite beste Freundin von Aisha und Rosie, die ihre ganz eigenen
Probleme ständig von sich wegschiebt.
Und die anderen, die Tsiolkas Kapitelweise je zu Wort kommen lässt und in
dieser Form ein dichtes Netz von Emotionen, Eindrücken, vom Leben spinnt, denen
seine Protagonisten nicht entrinnen können. Von denen in der Regel sowieso
jeder und jede nur sich selbst und sein je vorhandenes
"Gefühls-Innenleben" vor Augen hat.
Fazit
Acht Perspektiven sind es, die Tsiolkas nacheinander verfolgt und in denen er
nicht nur sprachlich ganz hervorragend ein Abbild hoch individualisierter
Lebenshaltungen und je ganz eigener Familienwerte vor Augen führt, sondern
hält der gesamten "nur" individuell ausgerichteten Lebensweise, die
alleine die eigene Befindlichkeit je in den Mittelpunkt zu stellen vermag, einen
ungeschminkten Spiegel vor Augen, der nicht unberührt lässt. Ein
hervorragendes Buch.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 23. März 2012 2012-03-23 11:15:59