Lea Johannsen hat zusammen mit einem Kollegen eine Praxis als Psychiaterin in
Mainz. Wenn im Winter depressive Verstimmungen Hochkonjunktur haben, sind Lea
und Kollege Ulrich besonders gefragt. Der plötzliche Tod einer Patientin unter
verdächtigen Umständen geht Lea sehr nahe. Der psychische Ausnahmezustand und
die Wahnvorstellungen der Susanna van der Neer konnten noch keinem konkreten
Krankheitsbild zugeordnet werden. Von Kommissar Franz Bender der Mainzer
Kriminalpolizei wird Lea als Zeugin vernommen, weil der Bruder der Toten einen
Selbstmord kategorisch ausschließt. Schon bald berichtet Bender der Psychaterin
regelmäßig minutiös über den Stand der Ermittlungen, als gehöre Lea zu
seinem Team. Nachdem ich mich eine Weile gefragt hatte, gegen welche
Dienstvorschriften ein Ermittler wohl verstößt, der mit Täterwissen
gegenüber einer Zeugin so großzügig umgeht, schiebt die Autorin einige
Seiten später die Begründung nach. Bender hat Lea Johannsen formal zur
Gutachterin erklärt und damit seine Schweigepflicht aufgehoben. Parallel zur
Handlung entfaltet sich, typografisch abgesetzt, die Vorgeschichte der Susanna
van der Neer, die an Tempo zulegt, bis sie mit der Handlung um Lea und die
polizeilichen Ermittlungen zusammentrifft. Susanna war nach Aussage ihrer
Brüder nicht für den Alltag geschaffen und lebte schon als Kind auf einem
anderen Stern. Die leicht beeinflussbare Frau war offenbar, von persönlichen
Schuldgefühlen belastet, einer Sekte in die Fänge geraten, die ihre Mitglieder
gezielt nach ihrem Vermögen auswählt. Eine Sektenbeauftragte wird zu den
Ermittlungen hinzugezogen. Schließlich ermittelt Lea spontan selbst und bringt
sich damit in eine äußerst gefährliche Situation. Nach Details aus dem
Familienalltag, die von der Handlung eher ablenken, nimmt der Krimi an diesem
Punkt Fahrt auf. Als in Leas Person Naturwissenschaft auf esoterische
Beutelschneiderei der Sekte trifft, wird deutlich, warum gerade Leas Blick als
Medizinerin und ihre Rolle als Zeugin-Sachverständige-Betroffene entscheidend
für die Auflösung des Falls sein wird.
Sophie Heeger mag Beschreibungen und bringt ihren Lesern die Landschaft am Rhein
besonders nahe, die Lea beim Joggen und bei ihren Hundespaziergängen wahrnimmt.
Die Autorin liebt beschreibende Adjektive und ausführliche Darstellungen von
Symptomen, Diagnosen und phamazeutischen Wirkstoffen. Ihre Detailliebe erstreckt
sich bis zur Münze für den Einkaufswagen, so dass das Verhältnis zwischen
Krimihandlung und Privatleben der Psychaterin zeitweilig unausgewogen wirkt. Als
Mutter von drei schulpflichtigen Kindern, deren Ehemann sich kaum an der
Familienarbeit beteiligt, führt Lea das normalverrückte Dasein einer
berufstätigen Mutter. Lea spricht und denkt in beinahe jeder Lebenssituation
druckreif, selbst beim entspannten Zusammensein in der Kaffeepause oder bei
gedanklichen Abschweifungen. Auch ihr Ehemann Sören steht ihr in seiner
Schriftsprache kaum nach, wenn er "tendenziell eine Frage verneinen
würde" (S. 253.) Selbst wenn ihr Gegenüber keinen Informationsbedarf hat,
lässt Lea selten eine Gelegenheit zum Dozieren aus. Sie leistet sich selbst
gegenüber der Lehrerin ihrer Tochter den peinlichen Auftritt, Allgemeinplätze
über die Pubertät hervorzusprudeln. Das Übererklären so mancher Situation
schränkt beim Lesen den Raum für eigene Beobachtungen ein und bremst die
Handlung zu stark.
Fazit
Die Bezeichnung literarischer Krimi legt die Latte für das Buch sehr hoch.
Kunst ist oft die Kunst des Weglassens. Als Leserin, der Bücher nicht dick
genug sein können, füllt meiner Ansicht nach der vielversprechende Plot um
eine Psychiaterin den entschieden zu langen Text erst in der zweiten Hälfte
aus. Heegers Sprache, die beim Leser große Geduld gegenüber medizinischen
Fachtermini voraussetzt, hat trotz des hohen sprachlichen Niveaus der Dialoge
und einiger Schlagabtäusche mit Witz keinen bleibenden Eindruck bei mir
hinterlassen.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 08. März 2012 2012-03-08 09:00:07