Vernunft und Gefühl, nicht entweder oder
"Die Menschheit war krank, todkrank. Das Ende der Menschheit zeichnete sich
ab. Wir haben das, der Vernunft sei Dank, verhindert". Jenes biblische Wort
des Paulus, "Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach" ist
jener Zustand, der in der zukünftigen Handlungswelt des Romans als Erkenntnis
(fast) konsequent umgesetzt wurde zugunsten des "Geistes" und gegen
das "Fleisch".
Zur Vernunft gekommen ist die Menschheit. Zumindest vordergründig. Oder besser
der Rest, denn mehr als ein paar über 10.000 sind es gar nicht, welche jene
Welt bevölkern, von der die Protagonistin des Romans erzählt. Irgendwo auf der
Südhalbkugel, auf verschiedene Inseln, die alle je einem bestimmten Zeck
dienen, verstreut. Unterteilt in "Ordensschwestern" eines Ordens der
reinen Vernunft und in "Blühende", den großen Rest der Menschen,
welche durch einen Eingriff in die Genese des Gehirns und die Zugabe eines
Hormons bis zum 40. Lebensjahr in der kindlichen Schwebe vor der Pubertät
gehalten werden. Dem Spiel verbunden und durch die "reine Vernunft"
(Kant wird ausdrücklich genannt im Buch) der Ordensschwestern geleitet endet
das Leben der "Blühenden" jäh im 40. Lebensjahr. Das Hormon wird
abgesetzt, ein Tag sexueller Orgien folgt, die Früchte dieser Orgien werden
"entnommen" (die besamten Eizellen der Frauen) und die ehemals
Blühenden sterben, um Platz zu schaffen für den Nachwuchs.
Der Orden, der geleitet wird von der "Magna Mater", welche als Person
nicht zu erkennen ist, hinter einer Maske sich verbirgt, dieser Orden
organisiert das alltägliche Leben, in dem die Historie streng verschlossen
gehalten wird und die Zukunft nicht angedacht werden soll. Doch Morituri, die
Ich-Erzählerin des Romans, selber Ordensschwester, ist anders. Da die
Ordenschwestern nicht durch das Hormon behandelt werden, erleben sie eine
"normale" körperliche Entwicklung der Reifung bis zum Alter hin und
einem natürlichem Tod. Eine Reifung, die auch Wünsche mit sich bringt. Vor
allem aber Wünsche nach echter Nähe, Liebe, Hingabe. Wünsche, denen Morituri
sich nicht verschließen kann und die sie heimlich lebt. Kräfte, die eigentlich
gezähmt sind und gezähmt bleiben sollen.
Kräfte aber, und das ist das eigentliche Thema des Romans, die sich letztlich
nicht zähmen lassen. Anhand der abenteuerlichen Geschichte der Ordensfrau
Morituri, die sich immer mehr und weiter von den inneren Haltungen einer
Ordensfrau entfernt, dekliniert E.W.Heine das "Menschsein" hindurch,
Zeigt eine zukünftige Welt der versuchten "reinen Vernunft", die doch
auf einer Lüge beruht, zeigt auf, wie Bedürfnisse in letzter Konsequenz immer
wieder eine verschlossene Tür einen Spaltbreit zumindest aufschieben werden.
Eine Tür, die sich nie ganz schließen lassen wird. Im Buch ausgelöst durch
eine äußere Katastrophe eines Tsunami, ein treffendes Bild für eine sich
anstauende Welle der Emotion in einer Menschheit, die der Leidenschaft strikten
Einhalt zu gebieten versucht.
So verbleibt im Rahmen der Lektüre von Beginn an das Wissen, dass der Mensch
sich im alleinigen, kurzfristigem "Wollen" aus Leidenschaft heraus
zugrunde richten wird (die grundlegenden Probleme der Gegenwart benennt Heine
klar und präzise im Buch), das aber ein "Umschalten" von allem hinweg
auf nur die Ration und nur die Gegenwart den Mensch seines Menschseins beraubt
und ebenfalls zum scheitern verurteilt ist.
Verstand und Emotion, Leidenschaft und Ethik, Emanzipation von abergläubischen
Vorstellungen und die Fähigkeit zur langfristigen Liebe, all das muss
zusammenfließen, um ein Gesamtes an Menschsein zu ergeben. Ein langer Prozess,
für den es keine einfache Lösung gibt und für den auch Heine keine einfachen
Formeln im Roman anbietet. Aber in eleganter, bildreicher Sprache jenes
menschliche Streben, jene Suche nach "Ganzheit" und Angenommen sein
trefflich in seiner Geschichte abbildet. Und ebenso bildet Heine das ab, was
trotz aller auch innerer Erschwernissen und trotz aller Verdrängungskunst des
Menschen der Schlüssel zu diesem "Ganzen" Leben sein kann. Die Liebe
und die Wahrheit. Diesen Weg wird auch Morituri (die "Todgeweihte" in
der lateinischen Übersetzung) im Buch auf sich nehmen. Mit zunächst sehr
offenem Ausgang.
Fazit
Mehr als einen reiner Science-Fiction Roman bildet das Buch von E.W. Heine eher
ein Gleichnis des Menschseins, in dem er aufzeigt, dass das Leben in Polen der
menschlichen Natur (reinweg nach Lust und Wollen oder nur nach der Vernunft)
nicht funktionieren kann. Dies fasst Heine als roten Faden hinein in seine
Geschichte, die Abenteuerroman, Liebesroman, Science-Fiction und vieles mehr
ist, vor allem aber ein Plädoyer für den Menschen als "Ganzes", der
die Fähigkeit für ein konstruktives Leben mit allem um ihn herum bitter und
drängend notwendig entwickeln muss, um sich nicht selber die Lebensgrundlagen
zu nehmen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 27. Februar 2012 2012-02-27 14:26:11