Der fremde Mann in Jeans und Lederjacke ist blond wie Vincent und hat sogar die
gleiche Zahnlücke wie er. Für Vincent ist es, als würde er in den Spiegel
sehen. Vincents Mutter hatte immer eisern über den Vater ihres Sohns
geschwiegen. Sogar eine Schublade der Kommode war immer abgeschlossen, damit
Vincent darin nicht nach Hinweisen auf seinen unbekannten Vater suchen konnte.
Als Achtjähriger hat Vincent im Stadtviertel sogar Suchmeldungen nach seinem
Vater geklebt. Einmal hatte seine Muttter sich verplappert und verraten, dass
Vincent seinem Vater sehr ähnlich sieht. Seinen unbekannten Vater nennt Vincent
Daddy; denn wer sonst als ein Engländer könnte die Reihe englischer Krimis im
Bücherregal des Wohnzimmers zurückgelassen haben. Vincents Mutter liest keine
Krimis.
Telefongespräche, die die Mutter neuerdings heimlich führt, heizen Vincents
Forscherdrang erst richtig an. Für jemanden, der etwas ausspionieren will, ist
Vincents Freundin Malin die ideale Unterstützerin. Den fremden blonden Mann in
Lederjacke hat Malin aus der Seniorenresidenz kommen sehen. Ein paar Tage vor
den Ferien gibt es für die Schule kaum noch etwas zu tun. Die beiden Freunde
treffen sich am Nachmittag, um dem Fremden nachzuspionieren. Ihre Recherchen
führen Malin und Vincent in ein Hotel, zum gehbehinderten Justus Blomdahl in
die Seniorenresidenz und zu einem Kunstmaler, der in einem Hochhaus lebt.
Mit einer alleinerziehenden Mutter oder einem alleinerziehenden Vater zu leben,
ist für viele Kinder alltäglich. Bei ihren Freunden erleben sie das Aufwachsen
mit einem Elternteil als ebenso normal. Vincent kennt es nicht anders und hat
sich doch immer nach seinem Vater gesehnt. Seine kindliche Hoffnung, dass alles
wieder gut sein wird, wenn nur der verschwundene Vater seinen Sohn endlich
kennenlernt, ist verständlich. Eine moderne, berufstätige Mutter, die ihrem
Sohn Informationen über seine Herkunft verweigert, ist dagegen für ein Kind
ein ernstes Problem. Wie kann ein Jugendlicher ohne Kenntnis seiner Wurzeln
erwachsen werden? Mit seiner abenteuerlichen Vatersuche schlägt Vincent seinen
eigenen Weg ein, ohne sich direkt mit seiner Mutter auseinanderzusetzen. Kinder
wie Vincent müssen sich später einmal mit den Fehlern aussöhnen, die ihre
Mütter evtl. in gutem Glauben machten.
Im Anschluss an die sehr gut nachvollziehbare Ausgangssituation hat mir der
Verlauf der Geschichte nicht mehr gefallen. Malins und Vincents
Detektiv-Abenteuer sind zwar spannend geschildert, aber mit dem für Elfjährige
sehr großzügigen Freiraum fand ich sie unrealistisch. Die Eltern
interessieren sich kaum dafür, wo ihre Kinder den Nachmittag verbringen,
Vincent und Malin klingeln bei Fremden und ernennen sich selbst zu Altensittern
in einer Seniorenresidenz - dass Kinder ihre Abenteuerlust in Hotels und
Seniorenheimen frei ausleben, ohne dass ein Erwachsener eingreift, finde ich
nicht glaubwürdig.
Fazit
"Geheimsache Daddy" als sozial engagiertes Problembuch für Leser ab 9
Jahre wirkt auf mich mit seinem glücklichen Ende gut gemeint; die Erfüllung
von Vincents Vater-Sehnsucht findet auf einer fantastischen Ebene statt, die ich
für betroffene Kinder unglücklich finde.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 31. Januar 2012 2012-01-31 12:14:10