Der 29 Mai des Jahres 1453 war ein Dienstag. Und es sollte der letzte Tag sein,
den viele Menschen in der Stadt Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) erleben
sollten. Mit der Eroberung der Stadt durch türkische Truppen endete die fast
1200 Jährige Geschichte des in der Moderne als "byzantinisches Reich"
bezeichneten Staates. Und es begannen Jahrhunderte der Unterdrückung für die
griechische Bevölkerung, bei denen noch heute dieser Tag als Tag des Leids
begriffen wird.
Das byzantinische Reich, welches diesen Namen nie trug, sondern sich als
direkten Nachfolger des römischen Weltreiches begriff (und es staatsrechtlich
auch war), begann im weitesten Sinne mit der Gründung der Stadt Konstantinopel
im Jahre 330. Der damalige Kaiser Konstantin (der Große), gründete den kleinen
Ort Byzantion (Byzanz) - der damals bereits über 800 Jahre alt war), unter
seinem Namen neu. Es war ein Ausdruck des programmatischen Neubeginns, den
Konstantin auch durch die Anerkennung des Christentums als geförderte Religion
zum Ausdruck brachte.
In der Moderne war Byzanz, besonders von Historikern des 19. Jahrhunderts, und
vorher bei Gibbon ("History of the Decline and Fall of the Roman
Empire"), als Inbegriff der Dekadenz betrachtet worden. In der Neuzeit
wandelte sich dieses Bild, und in der modernen Historiographie, wird auf die
originären Leistungen Byzanzs verwiesen. So bewahrte es Europa vor dem frühen
Ansturm des Islam und vorher vor den sassanidischen Persern. Es war "der
Schild", hinter dem Europa lange Zeit Zuflucht fand. Und die
Christianisierung des Balkans und Rußlands ging von Byzanz aus, von den
kulturellen Werten ganz zu schweigen.
Heutzutage weiß in Europa jedoch kaum noch jemand, was Byzanz war, und für
welche Werte es Einstand (nach Ostrogorsky: "römischer Staat, christlicher
Glaube und griechische Kultur"). Eines der bedeutensten Reiche Europas
schien dem Gedächtnis der Menschen zu entgleiten.
Viele Historiker haben sich mit Byzanz beschäftigt (Ostrogorsky, Mango,
Treadgold,
Runciman,
Schreiner und zuletzt im deutschsprachigen Raum
Lilie). Doch ein neueres Handbuch
fehlte bislang - zumindest eines, welches dem wissenschaftlichen Ansprüchen
genügte. Ostrogorskys Werk ist über 60 Jahre alt, und Treadgolds letztes Werk
("History of the Byzantine state and society"), weist erhebliche
Mängel auf und ist umstritten, da er manche Ereignisse der byzantinischen
Geschichte (wie die Einführung der Themenverfassung) recht willkürlich
festlegte (siehe auch die Rezension in der "American Historical
Review" 2003/Vol. 105/No. 3). Doch nun legt der bekannte deutsche
Byzantinist
Ralph-Johannes
Lilie (Byzanz und die Kreuzfahrerstaaten / Byzanz in der Beck Wissens Reihe)
eine gutes Überblickswerk über die byzantinische Geschichte vor - allein diese
Tatsache verdient Respekt.
Lilie konzentiert sich vor allem auf die sogenannte "mittelbyzantinische
Zeit", die mit der Regierungszeit des Herakleos einsetzt und bis in die
Komnenenzeit reicht (ca. 610 - 1081). Die davor liegende Zeit und danach
folgende Verfallszeit skizziert Lilie nur, doe werden auch die Grundlinien
deutlich. Die Konzentration auf die mittelbyzantinische Zeit trägt nicht zu
Letzt der besseren Quellensituation dieser Zeit Rechnung (auf wenn diese nur
relativ "gut" ist, doch auch darauf geht Lilie im Prolog ein). Die
Ereignisgeschichte wird immer wieder von Einschüben unterbrochen, in denen
Lilie auch die kulturellen und sozialen, aber auch ökonomischen Tendenzen in
Byzanz in knappen Essays beschreibt. Dies tut der Abhandlung sehr gut, wird doch
so die reine Aufzählung der Ereignisgeschichte aufgelockert und noch dazu
wichtige Grundlinien verdeutlicht, die den byzantinschen Staat geprägt haben.
Lilie betreibt teilweise recht interesante Quellenkritik, so z. B. in Hinblick
auf den sonst in der Literatur sehr schlecht abschneidenden Tyrannen Phokas (602
- 610).
Die byzantinische Geschichte, mit all ihren Höhepunkten (wie unter Herakleos
und Basileos II) und ihrem tragischen Ende, wird anschaulich und kritisch
beleuchtet. Es ist ein Vergnügen, den Bogen zu verfolgen den Lilie spannt, vom
Beginn Byzanz' in der Spätantike, über Justinans "Reconquista", bis
zu den Araber- und Türkenkriegen. Besonders wird auf Quellenkritik Wert gelegt,
und darauf geachtet, die Sachzusammenhänge deutlich zu machen. Besonders
lobenswert ist die Tatsache, dass Lilie (der das Berliner Institut für
byzantinische Prosopogräphie leitet), nicht alte Forschungsmeinungen
"wiederkaut", sondern eigene Ansichten fundiert präsentiert. Nicht zu
Unrecht, wurde Lilies Werk bereits als neues Standardwerk empfunden.
Einziger Kritikpunkt: die Zeit bis ca. 600 und nach 1081 hätte ausgeweitet
werden können und die kulturellen und soziologischen Aspekte vertieft werden
können. Doch sei dies Lilie vergeben, da er einen anderen Weg der
Historiographie beschreitet als beispielsweise Haldon (John Haldon, Das
Byzantinische Reich. Geschichte und Kultur, Düsseldorf 2002).
Fazit
Lilies Abhandlung ist flüssig und teilweise sehr spannend geschrieben - etwas,
was man von deutschen Historikern kaum gewohnt ist. Dies ist eher das Metier der
anglo-amerikanischen und englischen Historiker (Runciman, Peter Green, Peter
Brown etc.). Und obwohl das Buch für ein breiteres Publikum geschrieben wurde,
erfüllt es dennoch die Anforderungen wissenschaftlicher Objektivität. Dieses
vorzügliche Übersichtswerk erfüllt seinen Zweck: es bringt dem Menschen von
heute dieses vergessene Weltreich etwas näher und stärkt sein Verständnis
für die Kultur von Byzanz, die vor allem die Kultur Russlands und des
Balkanraumes prägte, aber auch Westeuropa das Wissen der Antike wenigstens
teilweise rettete. Ein sehr empfehlenswertes Buch, auch, aber nicht nur, für
Laien, trotz des recht hohen Preises.
Besonders hervorgehoben sei auch die hervorragende Ausstattung des Buches, mit
edlem Cover, Lesebändchen, ansprechenden und gut ausgewählten Abbildungen,
ausreichenden Karten, und einer für diese Zwecke ausreichenden
Bibliographie.
Ich weise noch mal darauf hin: diese Buch ist
nicht nur für Laien...
aber eben auch an deren Bedürfnisse angepasst. Und somit sei das größte Lob
an Lilie ausgesprochen: ein Buch geschrieben zu haben, welches Laien als auch
Fortgeschrittene anspricht und sie für das Thema Byzanz, welches so lange
vernachlässigt wurde, zu erwärmen weiß.