Wir befinden uns im China der nahen Zukunft, um das Jahr 2030 in einer Zeit nach
der "Dritten Revolution". Die Polkappen sind bereits abgeschmolzen,
Chinas KFC-Paläste der Gegenwart mussten neuen Hochhäusern mit
Flüsigkeitskristall-Fassaden weichen. Das Überleben der besser Angepassten
hat in China dazu geführt, dass statt pulverisiertem Nashorn inzwischen
gemahlene Nashorn-Zähne als Potenzmittel angepriesen werden. Schon in unserem
Jahrzehnt rottete vergiftetes Nashorn-Pulver aus dem südlichen Afrika die
letzten Unbelehrbaren aus.
Ob der wirtschaftliche Niedergang Europas Deutsche und ihre europäischen
Nachbarn als Gastarbeiter nach China führte oder Europa inzwischen unter Wasser
steht, bleibt offen. Die Europäer bilden in China ein Lumpenproletariat
schnorrender Autoscheibenputzer an den Straßenkreuzungen und radebrechen
abgehacktes Chinesisch. Auch wenn Europa längst ein Begriff aus der
Vergangenheit ist, kann der legendären Ruf der Deutschen als
Kühlschrankkonstrukteure sich in China halten.
Werbefilmer Li Ai will mit der von ihm verehrten Olympia Liang einen Spot zum
Parfüm "Wald" drehen, am liebsten eine Märchenszene vor Waldkulisse.
In einer Welt, in der die Oberfläche zur Wirklichkeit geworden ist, scheinen
von deutscher Kultur nicht mehr als ein paar verballhornte Schlager-Bruchstücke
und Lis Erinnerung an ein Märchenbuch mit einem Hänsel-und-Gretel-Bild übrig
zu sein. Fachwerk und Kuckucksuhren sind offenbar noch immer Kult im fernen
Osten. Eine Werbekampagne auf die Kultur eines entwurzelten Volkes aufzubauen,
das bei der Müllabfuhr arbeitet, zeugt im Land des Deklamierens und Kopierens
von außergewöhnlichem Wagemut.
Jörg-Uwe Albigs utopischer Balance-Akt zwischen zwei Kulturen amüsiert
Eingeweihte und lässt für China-Anfänger Brösel ungelöster Rätsel
zurück. Dem harmlos wirkenden Amoktexten klassischer chinesischer Weisheiten
ist noch zügig zu folgen. Der Witz klangvoller wie Glück bringender
chinesischer Produkt- und Firmennamen oder der Sinn von Eigennamen voller feiner
Anspielungen erschließt sich eher Insidern. 2030 treten die Nanos im Sport
gegen die Fotovoltaicos an; statt der Acht Köstlichkeiten schmaust man Sieben
Anständigkeiten. Weil eine nur wenigen Europäern vertraute chinesische
Gesellschaft der Gegenwart weitergedacht und zum Spiegel der aktuellen deutschen
Einwanderungsgesellschaft wird, zeigt sich Albigs Sprachwitz raffinierter und
weniger offensichtlich als z. B. der Zusammenprall der Kulturen in Rosendorfers
Briefen in die chinesische Vergangenheit.
Fazit
Ein intelligentes Jonglieren mit Sprache und mit interkulturellen Klischees, das
beim Lesen einfach Spaß macht.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 07. Januar 2012 2012-01-07 20:37:14