Nur weil ein Kind schwer erkrankte, konnte die Familie Finkelstein mit den
Schiffstickets der anderen Familie 1939 auf einem der letzten Schiffe nach
Shanghai emigrieren. Vater Finkelstein ist Jude und hat während des
Nationalsozialismus seine Konditorei und die berufliche Selbstständigkeit
eingebüßt. Die Reise an Bord eines italienischen Schiffs erlebt die
zehnjähige Inge wie ein Abenteuer, wenn auch für sie andere Passagiere
deutlich als ehemalige Häftlinge und Verfolgte des Nationalsozialismus zu
erkennen sind. Die Freundschaft mit Max aus Stuttgart hilft Inge, ihre
Erlebnisse zu verarbeiten. Allmählich begreift sie, wie es ihrer chinesischen
Freundin
Ina aus China
damals ergangen sein muss, als ihr Vater sie vor den japanischen Angriffen auf
Shanghai nach Deutschland in Sicherheit bringen wollte. Mit ihrem Wissen über
Inas Heimatstadt und ein paar Brocken Chinesisch fühlt sich Inge Finkelstein
in Shanghai gleich vertraut. Für Inge sind das Gewusel von Menschen und
Rikschas in Shanghais Straßen und die ungewohnten Gerüche zunächst
überwältigend. Qualifizierte Arbeitskräfte sind gesucht, so dass Vater
Finkelstein schon kurz nach der Ankunft Arbeit und Unterkunft in der Konditorei
Fiedler findet. Finkelstein klingt in chinesischen Ohren wie ein Zungenbrecher.
Von Frau Fiedler, die Chinesin ist, erhält Inge den chinesischen Namen Fang
Ying Ge (herausragende, prinzipientreue Person), von Fiedlers Sohn Sanmao ihren
Spitznamen für die Straße: Entenkopf. Sanmao wächst zwischen Torte, der
deutschen Kultur seines Vaters, und Stäbchen, der Kultur seiner Mutter auf. Von
den Chinesen bekommt er deutlich zu spüren, dass er nur ein Halbdrache ist, ein
Mischling.
Während Frau Finkelstein isoliert in der winzigen Wohnung zunehmend
unzufriedener und depressiver wird, lernt Inge von Sanmao den Wert von guanxi,
Beziehungen, schätzen und von den Dienstmädchen anderer Haushalte, wie auf dem
Markt verhandelt wird. Unter ständigem Druck durch Krieg und die japanische
Besetzung Shanghais, in beengten Lebensverhältnisse und unter besorgter
Kontrolle durch ihre Mutter wächst das Mädchen aus Brandenburg zu einer
starken Persönlichkeit heran. Mit den Einkäufen hat Inge die Kontakte der
Familie nach außen übernommen. Mutter Finkelstein klagt, dass Inge verwildert
und ihr zunehmend entgleitet. An der internationalen jüdischen Schule fühlt
sich Inge als protestantische Tochter eines nicht religiösen Juden wie zwischen
allen Stühlen sitzend. Auf den Kriegsausbruch in Europa folgt die Internierung
der englischen und amerikanischen Bürger Shanghais. Weil Vater Finkelstein mit
der Ausreise aus Deutschland seine Staatsangehörigkeit verlor, muss die ganze
Familie ins jüdische Ghetto Hangkou ziehen; seine Arbeitsstelle bei Fiedlers
kann Inges Vater von hier aus nicht mehr erreichen. Als Geschäftspartnerin von
Max, der nach dem Tod seines Vaters die Familie ernähren muss, beginnt Inge
eine Karriere als Kurierin zwischen zwei Welten; denn als Nichtjüdin kann sie
das Ghetto jederzeit verlassen. Bei Kriegsende fühlen sich die Finkelsteins in
einer Sackgasse der Weltgeschichte. Shanghai bot Inges Eltern zwar Zuflucht,
wurde ihnen in den Jahren des Exils aber keine Heimat. Inge dagegen verbrachte
in Shanghai ihre prägenden Jugendjahre. Sie hat ihr Leben noch vor sich und
will ihr Talent im Umgang mit Menschen beruflich nutzen. Inges Eltern können
die Selbstständigkeit ihrer Tochter nur schwer anerkennen: Aus ihrer Sicht
wurden ihnen sieben Lebensjahre gestohlen; nun verlieren sie auch noch ihre
Tochter an eine fremde Kultur.
Mit seinen historischen Stadtplänen, einer Zeittafel und der Bibliografie zur
Geschichte deutscher Emigranten in Shanghai zeigt sich "Torte mit
Stäbchen" als optisch sehr ansprechendes Buch. Inges Hineinwachsen in die
chinesische Sprache lässt sich zunächst anhand der Pinyin-Lautschrift
verfolgen, während sie zuerst zuhört und spricht, und als sie allmählich
Chinesisch lesen lernt anhand der chinesischen Schriftzeichen.
Fazit
Als Sinologin und Übersetzerin von Qiu Xialong aus dem Englischen ist Susanne
Hornfeck mit der Stadt Shanghai vertraut. Den historischen Hintergrund zur
Emigration deutscher Juden nach Shanghai und zum Netzwerk wohlhabender Familien
(wie der Sassoons und Kadooris) zur Unterstützung der Flüchtlinge hat die
Autorin sorgfältig recherchiert. Im Vergleich zu "Ina aus China" hat
mich Hornfecks mit Inas Schicksal verknüpftes zweites Buch aufgrund seiner
größeren Nähe zu den historischen Ereignissen stärker gefesselt. Das
vorhandene umfangreiche Material zum Schicksal deutscher Emigranten in Shanghai
ist der Authentizität von Hornfecks historischem Jugendroman zugutegekommen.
Sehr einfühlsam vermittelt die Autorin am Beispiel ihrer fiktiven Familie aus
Brandenburg die Entfremdung zwischen Eltern und Kindern, die auch Migranten der
Gegenwart erleben, wenn die junge Generation in einem fremden Land schneller
heimisch wird als die Eltern.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 02. Januar 2012 2012-01-02 11:52:31