Dissertation zu Suizid von 1550-1800
Ein durchaus außergewöhnliches und dabei interessantes Thema hat sich
Alexander Kästner für seine Dissertation im Rahmen der
Geschichtswissenschaften gesetzt. Im Blick auf eine relativ breite Zeitspanne
von 1547 bis 1815 innerhalb eines umgrenzten geographischen Gebietes (das
ehemalige Kursachsen)geht er hierin einerseits den Praktiken der Selbsttötungen
nach, hinterfragt und stellt zugleich die Werte der damaligen Zeit in breiter
Form dar. Gerade diese Interdependenz von Normen und Praktiken bildet den roten
Faden der gut 560 Seiten des Werkes.
Im Verlauf seiner Untersuchung weist Kästner nach, das und wieweit sich der
ordnungspolitische zugriff der Landesherrschaft auf das Thema der Selbsttötung
und die Körper der Selbstmörder intensivierte. Interessant zu beobachten ist,
dass sich diese Intensivierung tatsächlich eher auf den ordnungspolitischen
Bereich konzentrierte, eine veränderte innere Haltung folgt in den betrachteten
Jahrhunderten bis zur Neuzeit nur zäh. Auch natürlich, ebenso differenziert in
der Arbeit dargestellt, durch die klare Haltung einerseits und die durchaus
vorhandene weltliche Macht der Kirche andererseits. Auch "neue"
Einsichten durch aufklärerisch-reformatorische Argumente vermochten es lange
Zeit nicht, an der Haltung der Sanktionen gegenüber Selbsttötungen Änderungen
in Bewegung zu setzen. Faktisch blieben Selbsttötungen bis weit in das 19 Jh.
hinein kriminalisiert. Letztlich war und blieb es doch breite Überzeugung, dass
der "Teufel" die Hand des jeweiligen Selbstmörders
"führte".
Interessanterweise bietet gerade diese "religiöse" Deutung dann aber
auch (in Ausnahmen) Anlässe zu Beerdigungen auf "geweihtem Boden".
Luther selbst, noch in seinem Amt als katholischer Priester, hat für einen
Selbstmörder ein Grab auf dem Friedhof aufgehoben, weil dieser eben nichts
dafür könne, wenn der "Teufel ihn übermannt". Wobei auch Luther
und die protestantischen Theologen der Zeit ein Suizidalverbot grundlegend
vertraten, in Fragen der Beerdigung eines Selbstmörders dann aber individuelle
Kriterien gelten ließen, die unter Umständen für eine Bestattung in
"geweihter Erde" ins Felde geführt werden konnten.
Eine letztlich doch durchgängig ablehnende Haltung zum Suizid stellt Kästner
eindeutig fest und legt in seiner Dissertation dann offen, wie sich die
herrschenden Normen in landeshoheitliches Recht und Verfahren implementierten.
Die Frage nach dem Ort der Bestattung stellt sich übrigens in solchen Fällen
allein deswegen oft gar nicht mehr, da die Leichen von Selbstmördern umgehend
der medizinischen Ausbildung und der Anatomie zugeführt wurden. Zudem zeigt
Kästner auf, wie offizielle "Programme zur Rettung versuchten
Selbstmördern" gegen solch "unnatürliche" Todesursachen Wirkung
zeigen sollten, ebenso, wie gefährdete Personen einerseits abgeschreckt werden
sollten und andererseits, so bekannt, Objekte besonderer Fürsorge des Staates
wurden. Den Erfolg solcher Maßnahmen stellt Kästner dann allerdings zu recht
auch in Frage.
Als allgemein Lektüre zur Geschichte des Suizids und des Umgangs mit
Selbstmördern ist das Buch ob seines hohen wissenschaftlichen Anspruches, der
geographischen Enge der Untersuchung und seiner komplexen Sprache eher nicht zu
empfehlen. Insofern bezieht sich die Bewertung des Buches rein auf seinen
wissenschaftlichen Wert und nicht auf die Eignung als Lektüre.
Fazit
Als wissenschaftlicher Beitrag zur Geschichte des Suizids in Haltung, Normen und
Rechtssprechung, sowie im Blick auf das allgemeine Verhalten der Obrigkeit
allerdings legt Alexander Kästner eine durchaus gelungene Untersuchung vor,
innerhalb derer er fundiert nachweist, dass weder im Blick auf herrschende
Normen noch im tatsächlich allgemein praktischen Umgang mit Selbstmördern eine
Entkriminalisierung im betrachteten Zeitraum stattgefunden hat. Für die
wissenschaftliche Arbeit zum Thema setzt Alexander Kästner hier durchaus
Maßstäbe.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 20. Dezember 2011 2011-12-20 10:29:34