Es hieße, Eulen nach Athen zu tragen, den Schriftsteller Edgar Allan Poe
vorzustellen, der wie kein anderer die Kriminalliteratur und die Phantastik bis
hinein in unsere Tage geprägt hat. Zweifellos ist es eine enorme
Herausforderung für jeden Autor und Herausgeber, sich dem Anspruch dieses
großen Namens zu stellen. Die junge österreichische Herausgeberin und Autorin
Nina Horvath hat diesen Schritt gewagt und eine Anthologie deutschsprachiger
Autoren vorgelegt, die sich ausdrücklich in der Tradition des Altmeisters
sieht.
Das 230 Seiten umfassende Hardcover aus dem BLITZ-Verlag besticht bereits durch
seine äußere Gestaltung. Die Coverillustration von Zdzislaw Beksinski
harmoniert perfekt mit Farbe und Schriften des Umschlags und der ebenfalls sehr
ansprechenden Innenillustration von Mark Freier.
Den Reigen der Geschichten eröffnet der österreichische Autor Andreas Gruber
mit "Rue de la Tonnellerie". Die Erzählung schildert die Ankunft des
jungen Richard Wagner und seiner Ehefrau Minna im Paris des Jahres 1840, wo er
unter anderem auf die Unterstützung Heinrich Heines hofft, der im dortigen
Kunstbetrieb bereits etabliert ist. Wagner selbst befindet sich seit der Abreise
aus Riga in einer Schaffenskrise, die die desolate wirtschaftliche Situation des
Paares noch verschärft. Schließlich besucht er auf Einladung Heines das Cafe
Juliette in besagter Straße und trifft dort auf eine Reihe prominenter
Künstler wie Berlioz, Balzac, Dumas und Victor Hugo. Auch ein Amerikaner ist
vor Ort, dessen Beschreibung durchaus auf Edgar Allan Poe zutreffen könnte.
Heine stellt Wagner der Künstlergesellschaft vor und er darf diese zu einem
geheimen Treffpunkt begleiten, wo sie auf eine dominante weibliche
Persönlichkeit treffen, die sich Madame Sorce nennen läßt und über wahrhaft
visionäre Fähigkeiten verfügt. Dort lüftet sich auch das Geheimnis der
künstlerischen Kreativität der Anwesenden. Das alles ist glaubhaft und
stilsicher geschildert und bildet somit einen äußerst gelungenen Auftakt.
"Die steinerne Bibliothek" von Matthias Falke schildert zunächst die
etwas ungewöhnliche Beziehung des Ich-Erzählers zu einer jungen Frau, die erst
mit seiner Unterstützung das Lesen und Schreiben erlernt. Er muß die junge
Smera allerdings zurücklassen, als er sich auf eine wissenschaftliche
Expedition begibt, die ihn zusammen mit einem ehrgeizigen Forscherteam zu den
Felsenklöstern von Loulan führt. Durch eine stattliche Zuwendung gelingt es
den Wissenschaftlern, den Hüter des Ortes, einen alten Mönch zu überzeugen,
sie durch das Höhlenlabyrinth ans Ziel zu führen - eine unterirdische Kammer,
die er selbst als "Mittelpunkt des Universums" bezeichnet. Wie sich
herausstellt, handelt es sich um eine Art Bibliothek, die aus Tausenden im Sand
vergrabener Mamorstelen besteht. Die Stelen sind mit eingravierten Symbolen
bedeckt, die keine Schriftzeichen, sondern Symbole darstellen, deren
Entschlüsselung eine Sisyphusaufgabe darstellt. Schließlich finden die
Forscher auch die sogenannte "Master-Stele", deren Beschriftung eine
düstere Prophezeiung darstellt, die sich alsbald bewahrheitet. Auch wenn die
Liebesgeschichte nur mittelbar mit dem Geschehen in der Bibliothek
zusammenhängt, überzeugt auch diese Geschichte inhaltlich und sprachlich.
"Jenseits des Hauses Usher" von Markus K. Korb beginnt
vielversprechend mit der Entdeckung eines Buches von Roderick Poe, dem Bruder
des berühmten Literaten. Dort findet sich neben einer Reihe inhaltlich und
literarisch wertloser Abenteuergeschichten auch Material aus Rodericks
kartographischer Tätigkeit. Auf einer der Karten Neuenglands findet sich der
Verweis auf einen Ort namens Usher, dessen Erwähnung den literaturkundigen
Ich-Erzähler sofort elektrisiert. Birgt der in der Karte eingezeichnete See
tatsächlich die Überreste des untergegangenen Hauses Usher? In der Art einer
Tagebuchaufzeichnung werden die Versuche des Protagonisten geschildert, dem
Geheimnis auf den Grund zu gehen, was schließlich auf unerwartete Weise
gelingt. Die Idee ist faszinierend, die Umsetzung leidet allerdings ein wenig an
der etwas kurzgefaßten Schilderung des Umfeldes und einigen stilistischen
Ungenauigkeiten, die zumindest meinen Lesefluß gelegentlich unterbrachen.
Olaf Kemmler legt mit "Zu Gast bei Meister Pforr" eine atmosphärisch
stimmige und an den Stil von E.T.A. Hoffmann oder Wilhelm Hauff gemahnende
Erzählung vor, in der es um einen vermeintlichen "Hexenmeister" geht,
um dessen Wirken sich zahlreiche Gerüchte ranken. Erzählt wird die Geschichte
aus Sicht des reisenden "Schreiberlings" Carl Friedrich Cotta, der
nach einem unbedachten Kommentar zur französischen Revolution in das offenbar
schon damals vorhandene Ressort "Klatsch und Tratsch" abgeschoben
wurde. In der Postkutsche nach Heidelberg erfährt er von dem jungen Fräulein
Friedenthal, das in Begeleitung seiner Tante unterwegs ist, von einem verrufenen
Ort, einem abgelegenen Dorf in den Wäldern, in dem besagter Hexenmeister sein
Unwesen treiben soll. Während einer Rast hört sich Cotta bei den Anwohnern um
und erfährt allerlei Ungereimtes und Grausliches über die verwunschene
Ortschaft. Kaum einer, der dorthin gegangen sei, wäre jemals zurückgekehrt,
und wenn doch, dann wäre er danach kaum wiederzuerkennen. Angeblich soll der
Diener des Teufels den Menschen sogar das Herz herausschneiden, um es in
Maschinen einzubauen, die danach ein Eigenleben entfalten würden. Den
unglückseligen Opfern würde er statt dessen ein Uhrwerk einpflanzen. Als Cotta
schließlich sogar auf eine konkrete Spur stößt, verläßt er die
Reisegesellschaft und macht sich auf den Weg nach Kainswinkel, wo ihm
tatsächlich die merkwürdigsten Dinge widerfahren. Auch diese Geschichte
überzeugt durch viele liebevolle Details und eine einfühlsame Schilderung der
Zeitumstände zwischen Aberglauben und Moderne.
Den Abschluß bildet die titelgebende Erzählung "Die Schattenuhr" des
leider früh verstorbenen Autors Michael Knoke. Die Geschichte folgt den
Aufzeichnungen eines gewissen Robert Thompson, der sich im Jahr 1888 auf den Weg
zum einsam gelegenen Anwesen seines Bruders George und dessen Frau Claudine
macht. Seit ihrer letzten Begegnung sind einige Jahre ins Land gegangen, und wie
sich alsbald herausstellt, hat sich inzwischen einiges verändert. Das Haus ist
düster, die meisten Fenster sind auch tagsüber verhängt, und der Garten und
der angrenzende Waldfriedhof strahlen eine unheimliche Atmosphäre aus. Claudine
und George wirken blaß und kränklich und verhalten sich seltsam abweisend.
Robert erfährt, daß das Haus in der Vergangenheit zumeist von obskuren
Künstlern und Esoterikern bewohnt wurde, die kaum Kontakt zur Außenwelt
pflegten. Die meisten waren auf dem Waldfriedhof begraben. Bald gewinnt er den
Eindruck, daß das Haus auch George und Claudine auf unheimliche Weise
verändert hat, aber die beiden weichen seinen Fragen aus und vertrösten ihn
auf das bevorstehende "Fest", dem sie regelrecht entgegenfiebern. In
der Bibliothek stößt Robert auf die Aufzeichnungen des Uhrmachers Tom Wilson
und erfährt von dessen Lebenswerk, der sogenannten "Schattenuhr",
einem magischen Mechanismus, der auf die "Gezeiten des Universums"
reagiert und angeblich zeitweise eine Brücke zwischen Diesseits und Jenseits zu
bilden vermag. Die Schattenuhr schlägt angeblich im "Herz des
Hauses", doch erst als das Haus auch Robert in seinen Bann gezogen hat und
das Fest beginnt, offenbart sich ihm ihr Geheimnis. Die Schattenuhr ist eine
klassische Horrorgeschichte und inhaltlich und stilistisch vielleicht am
dichtesten mit dem Werk des Altmeisters verbunden. Die von Beginn an
unheilschwangere Atmosphäre beherrscht nicht nur den Ort, sondern auch das
Denken und Handeln der Protagonisten. Es gibt keinen Ausweg, keine Rückkehr ins
normale Leben - eine Botschaft, wie sie auch für Leben und Werk von Edgar Allan
Poe typisch ist.
Fazit
Insgesamt bleibt zu konstatieren, daß Herausgeberin und Verlag mit der
"Schattenuhr" ein Buch gelungen ist, das insgesamt sowohl inhaltlich
als auch gestalterisch zu überzeugen vermag.
Vorgeschlagen von frankh
[Profil]
veröffentlicht am 21. Dezember 2011 2011-12-21 11:34:33