Die Entwicklung der Gewalt vom Anfang bis heute
Kann es tatsächlich sein, dass die Gewalt weniger geworden ist im Lauf der
Geschichte, wie es Steven Pinker behauptet? Aber er behauptet ja nicht nur. Der
Psychologieprofessor der Harvard Universität legt auf knapp über 1000 Seiten
aus entwicklungspsychologischer Sicht eine "Weltgeschichte der Entwicklung
der Gewalt" vor, wie sie umfassender kaum an anderer Stelle zu finden sein
wird. Und nimmt den faszinierten Leser mit auf die Reise in das "fremde
Land" der Geschichte.
Beginnend zu Urzeiten mit der Vorgeschichte der Menschheit, die einzelnen
Entwicklungsschritte der Zivilisation schildernd und immer wieder darauf
verweisend, wie gefährlich und gewalttätig das Leben in der überwiegenden
Zahl vergangener Epochen war. So gefährlich und gewalttätig, dass unsere
Epoche tatsächlich (relativ!) als die Friedlichste angesehen werden kann.
Ein "relativ" muss allerdings betont werden. Denn auch wenn man
Pinkers exzellenten Darlegungen leicht mit Einsicht folgen kann, sich
verschärfende Spannungen sind dennoch nicht wegzuleugnen und zudem gilt, was zu
allen Zeiten galt. Wird der Mensch erst ohne Rahmung losgelassen, dann taucht
fast umgehend auch das grausame Tier wieder auf. Folterpraxis auch in
"zivilisierten" Ländern, Kriegsgräuel und vieles mehr sprechen auch
heutzutage in diese Richtung noch eine klare Sprache. Wohl aber ist aus Pinkers
Darlegungen deutlich abzulesen, welche Entwicklungen zu einem
"Rückgang" offener und verdeckter Gewalt im Lauf der Neuzeit geführt
haben. Entwicklungen, an denen für die Zukunft der Weg zu einer Welt mit
weiterhin abnehmender Gewalt abzulesen wäre. Allein für diese Klarheiten lohnt
sich die Lektüre des Buches bereits.
Immer aber muss der Leser sich gewahr bleiben, dass hier kein Historiker eine
Geschichtsschau abliefert, sondern ein Psychologe sich eines konkrete Themas der
"menschlichen Natur" zuwendet und wohl auch mit einer (fast) fertigen
These sich im Buch an eine Art "Beweisführung" gemacht hat. So fällt
auf, dass er nicht "absolute" Zahlen von Gewaltopfern ins Feld führt,
sondern dies je in Relation zur Weltbevölkerung setzt. So nur erklärt sich,
dass das 20. Jh. als eines der unblutigsten gelten kann, obwohl von den
absoluten Zahlen her die meisten Opfer durch Gewalt im Verlauf der Geschichte in
diesem Jahrhundert festzustellen sind.
In ähnlicher Weise "springt" Pinker durchaus hier und da auch
assoziativ durch Geschichten, Geschichte und Traditionen. Bis Pinker zur
Schlussfolgerung gelangt, dass eine "düstere Weltsicht" voller
apokalyptischer Sorge zumindest was die Gewalt unter den Menschen angeht
letztlich nicht gerechtfertig ist, sondern durchaus "Dankbarkeit" in
den Raum treten könnte. Zumindest zu einem gewissen Teil in der Rückschau, das
viele "Formen der Gewalt bis heute zurückgegangen sind".
Dies stellt Pinker als Folge "sozialer, kultureller und materieller"
Bedingungen dar, die sich sprunghaft im Blick auf die Menschheit verbessert
haben und, gemeinsam mit sozialen Übereinkünften, vielen "Gewalten"
die Spitze genommen haben.
"Bleiben diese Bedingungen bestehen, wird auch die Gewalt gering
bleiben".
Für diese These führt Pinker eine immense Vielfalt an Argumenten, Zahlen und
Beobachtungen an, die dennoch subjektiv gefärbt bleiben. Wie schnell roheste
Gewalt sich Bahn brechen kann auch in Zeiten, die von Humanismus und Aufklärung
bis in die Verfassungen hinein geprägt ist, davon zeugt der ganz normale Alltag
bereits. Das dies unter Umständen nur mehr "Ausrutscher" oder
"Ausnahmen" quasi unbezähmbarer, aber immer vereinzelter auftretender
"innerer Dämonen" sind,, das will man gerne glauben, kann aber die
Augen nicht davor verschließen, dass noch längst nicht an allen Orten der Welt
Ratio und Aufklärung wirklich Fuß gegriffen haben. Dennoch legt Pinker ein
beachtenswertes Werk vor, in dem vielfach sich jene Entwicklungslinien
herausschälen, die es zu fundieren und weiter zu verfolgen gilt, um der rohen
Gewalt (noch mehr) Einhalt zu gebieten.
Fazit
Ein umfassendes, breites und durchaus mit Tiefe versehenes Werk, das nicht immer
strikten wissenschaftlichen Formen folgt, mit Assoziationen arbeitet,
Verbindungen knüpft, die hier und da ein wenig zu gewollt wirken, in dem
dennoch aber wesentliche Erkenntnisse der "Minderung von Gewalt" auf
gesellschaftlicher Ebene klar herausgearbeitet werden. Ganz eindeutig sprechen
Pinkers Zahlen und Betrachtungen, Berechnungen und Beobachtungen davon, dass
seit 1945 diese Welt deutlich unblutiger (und damit friedlicher) geworden ist
als in allen Jahrhunderten zuvor (nicht nur berechnet auf die
Gesamtbevölkerungszahl). Eine gute, aber eben auch eine brüchige Entwicklung,
die stetig vor Augen gehalten werden will, um ihre Kraft nicht zu verlieren.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 05. Dezember 2011 2011-12-05 14:57:22