Kampf um Religion und Territorium
"Der letzte Kreuzzug", so lautet der Untertitel dieser umfassenden
Betrachtung einer der blutigsten Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts.
Dieses besondere Stück "Kriegsgeschichte", dass gerade in Deutschland
nicht allzu breit im Bewusstsein verankert ist, legt Orlando Figes auf knapp 700
Seiten nachvollziehbar strukturiert umfassend in Entwicklung, Verlauf und Folgen
dieses Krieges vor. Und mehr noch, nachvollziehbar weist er auf, dass durchaus
religiöse Motive eine, wenn nicht die, entscheidende Ursache dieses Krieges
waren.
Der Geschichtsprofessor am Birkbeck College in London nimmt sich dabei Zeit (und
Raum) für seine Darstellung und belohnt den Leser für dessen konzentrierte
Leseleistung mit einem detaillierten und, vor allem, umfassenden Blick nicht nur
auf die kriegerische Auseinandersetzung selbst, sondern vor allem auf die
Bedeutung des Krimkrieges für die Machtverschiebung in Europa.
Russland auf der einen Seite mit starkem Expansionsdrang, vor allem zunächst
gegen die Türkei. England und Frankreich als (aus politischem Eigennutz)
Verbündete der Türkei auf der anderen Seite sorgen in den Jahren zwischen 1853
und 1856 für den ersten, sogenannten, "modernen Krieg", in welchem
dem technischem Fortschritt ebensoviel Bedeutung zukam wie der reinen Quantität
an Truppen und deren entsprechender Ausbildung.
Die Belagerung und Schlacht um Sewastopol ist sicherlich hier ein breit
bekannter Begriff und gilt als zentrales Ereignis des Krimkrieges. Anhand vieler
direkter Quellen und mit durchaus kraftvoll bildhaftem Sprachstil stellt Figes
dieses Ereignis der Weltgeschichte mitsamt der umgebenden Schlachten und
Scharmützel plastisch und in ganzer Härte dar. Was da an Berichten aus den
Lazaretten vorliegt und an geschilderter Grausamkeit und teilweiser Verrohung
mit im Raume schwingt, lässt den Leser nicht unberührt.
Vor allem aber den Kern der Auseinandersetzung und die späteren Folgen für die
europäische Balance stellt Figes deutlich heraus. Das Streben von Zar Nikolaus
I. nach einem religiösen Großreich, dem vor allem das osmanische Reich im Wege
stand (Konstantinopel war zentraler Ort der Begehrlichkeit für ein
"orthodoxes Großreich", zudem hinderte die heutige Türkei den Weg
nach Jerusalem) wird von Figes minutiös offen gelegt. Religiöses
"Großmachtstreben" einerseits, Konstantinopel und Jerusalem unter dem
Dach der "orthodoxen Kirche" und der Vorrangstellung Russlands
einzunehmen einerseits und die Sorge um den Verlust politischen Einflusses und
territorialer (ebenso auch religiöser) Ansprüche auf der anderen Seite sind
die eigentlichen Ursachen des Krimkrieges.
Wie also die mittelalterlichen Kreuzzüge liegen die Wurzeln des Krimkrieges
wiederum in der Begehrlichkeit, die sich auf das "heilige Land"
richtet. Dort beginnt im Übrigen letztlich auch die Auseinandersetzung, die zum
Krieg führten und bei diesen Auseinandersetzungen zwischen Christen
verschiedener Glaubensrichtungen (vor allem ausgelöst durch orthodoxe
Christen) setzt auch Figes mit seiner Schilderung ein. Und vollzieht von da aus
folgerichtig aus dem religiösen Anspruch heraus den dann weltlichen Krieg.
Ein Krieg, der, so legt Figes fundiert dar, keiner der beteiligten Parteien auf
Dauer wirklich Nutzen eingebracht hat, im Gegenteil, auf die ein oder andere
Weise haben alle beteiligten Großmächte des Krimkrieges letztendlich
äußerlich oder innerlich verloren. Schon 15 Jahre später wurden die
Verhältnisse in Europa nachhaltig wieder verändert. Im französisch-deutschen
Krieg 1870/71, dessen innere und äußere Wurzeln Figes ursächlich mit dem
Krimkrieg verzahnt.
Fazit
Ein sprachlich und in seiner fundierten Recherche ganz hervorragendes Buch legt
Orlando Figes vor, in dem er aufzeigt, wie aus eigentlichen Nichtigkeiten ein
umfassender Krieg entsteht und wie aus der ersten modernen
"Materialschlacht" der Neuzeit nichts weiter entsteht außer
Schwächung aller Beteiligten und späterhin neue Kriege. Das Buch ist jedem
historisch interessierten Leser zu empfehlen als Paradebeispiel einer umfassend
gelungenen historischen Betrachtung, fordert aber Zeit und Konzentration (und
bei der Darstellung des Krieges selber auch gute Nerven) ab.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 24. Oktober 2011 2011-10-24 12:59:38