Gunnur, eine Psychiaterin um die fünfzig, kämpft sich durch Szenen eines
Alptraums, die sie zurück in ihre Jugend führen. Beim Erwachen muss sie
feststellen, dass in der Nacht ihre Wohnung ausgeraubt wurde. Schlimmer noch als
der Verlust aller Wertgegenstände ist für Gunnur die Vorstellung, dass die
Einbrecher sie im Schlaf beobachtet haben müssen. Sie malt sich die Vorgänge
in allen Details aus, fühlt sich beschmutzt und ihrer Wohnung beraubt. In
dieser unangenehmen Situation lässt sich Gunnur von ihrer Innenarchitektin
überrumpeln, die für einige Tage eine Betreuung für ihre 14-jährige Tochter
benötigt. Der von Hugruns Mutter geplante Video-Marathon zur Beschäftigung
ihrer Tochter muss ausfallen, weil aus Gunnurs Wohnung alle technischen Geräte
geraubt sind. Hugrun, die Besucherin, (fortan von Gunnur "das Reh"
genannt) zeigt unerwartetes Verständnis für das Leid der älteren Frau.
Anknüpfungspunkt für Hugrun ist der Gedanke, dass allein der Verlust des
Mobiltelefons durch Diebstahl für ein Mädchen ihres Alters eine absolute
Katastrophe wäre. Gunnur beschließt, mit Hugrun ins Sommerhaus der Familie zu
fahren. Genervt von der geistigen Trägheit, die sie dem fremden Teenager
unterstellt, gerät Gunnur in eine persönliche Krise. Ihr gesamtes berufliches
Können hat sie nicht auf die Situation mit der wortkargen Hugrun vorbereitet.
Gunnurs Gedanken über die unerwartete Begleiterin wirken wie ein zugeschalteter
Monolog. Als Psychiaterin ist Gunnur gewohnt, dass ihre Patienten von sich aus
erzählen. Doch Hugrun überrascht ihre Gastgeberin mit ihrem aufrichtigen,
unerschöpflichen Interesse an deren Kindheit. "Das Reh" muss nur
Stichworte geben, damit Gunnur von früher erzählt. Indem sie Hugrun ihre
Erinnerungen anvertraut, vergisst die ältere Frau völlig ihren Kummer um den
Einbruch. Während dieser Gedankenreisen erzählt Gunnur von sich wie von einer
fremden Person, u. a. aus einer Zeit, als die "nicht befreiten" Frauen
ihren Männern die Hemden bügelten. In Gunnurs Erinnerungen durchschreiten
beide Frauen wie Hand in Hand die Häuser von Gunnurs Kindheit. Gunnur wuchs in
einem Frauenhaushalt mit Oma, Mutter und zwei Schwestern auf. Schon mit 9 Jahren
musste sie für ihren Lebensunterhalt arbeiten und wurde jedes Jahr in den
Ferien zur Arbeit aufs Land geschickt. Wehmut über die empfundene
Gefühlskälte und mangelnde Anerkennung durch Gunnurs Mutter kommt auf.
Deutlich wird auf diesen Reisen in Gunnurs Kindheit, dass Hugrun außer ihrer
Heimatstadt Island kaum kennt und sich das Leben auf dem Land bisher nur
idyllisch und in den schönsten Farben ausgemalt hatte.
Bei einer Mutter erwachsener Kinder, die beruflich ständig mit anderen Menschen
zu tun hat, wirken Gunnurs starre Ansichten über Jugendliche reichlich
sonderbar. Als Expertin für zwischenmenschliches Verhalten muss die ältere
Frau sich das Mädchen selbst erklären, das ihr unvermittelt auf die
Türschwelle gestellt wurde. Beim Erzählen erkennt Gunnur, wie stark sie selbst
Mann und Kinder vermisst. Von der Betreuerin für ein Wochenende wandelt sich
Gunnur im Laufe der Beziehung zu Hugruns Mentorin. Dabei will die ältere Frau
zuviel auf einmal erreichen: Anregen, Bilden, Verändern, isländische
Traditionen weitergeben und bewahren. Zusätzlich soll Hugrun den Aufenthalt bei
ihr in bestem Licht in Erinnerung behalten.
Fazit
Kristin M. Baldursdóttir spürt in dieser Geschichte der Kindheit einer
älteren Psychiaterin nach, die die Ablehnung bisher fest verschlossen hielt,
die sie selbst als Kind erfahren hat. Die Gesprächspartnerinnen aus zwei
Generationen nähern sich im Erinnerungsprozess einander an, so dass sie am Ende
wie Gleichaltrige wirken. Mit leicht makabrem Unterton, der an ihr
Möwengelächter erinnert, weckt die Autorin die Neugier ihrer Leser, ob die
ungewöhnliche Beziehung die hohen Erwartungen Gunnurs an ihre
Gesprächspartnerin wohl übersteht.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 06. Oktober 2011 2011-10-06 08:57:08