Zeit- und Lebensschau
Nicht nur in zu den biographischen Eckdaten des Lebens von Charles Dickens oder
in eine reine Beschreibung seiner Vorlieben, Neigungen, seiner Persönlichkeit
nimmt Gelfert den Leser mit, sondern in eine ganze Zeitenschau. So, wie Dickens
Romane immer auch ein intensives Bild seines Zeitalters, der Sitten und
Gebräuche, der Regeln und Werte, der Nöte und Sorgen widerspiegeln (und damit
aufzeigen, wie sehr Dickens ein reflektierter Betrachter seiner Zeit war), so
legt auch Gelfert in weiten Teilen seines Buches Dickens immer wieder in Bezug
auf seine konkrete Zeit und in seinem persönlichen Erleben vor.
So ist es logisch und folgerichtig, das Gelfert als Einleitung zum Buch
zunächst ein Portrait des Zeitalters vorlegt.
Das viktorianische Zeitalter ist es, in welchem Dickens aufwächst, das
Zeitalter der Stände, der klaren, gesellschaftlichen Trennungen, das Zeitalter
auch eines stetigen, bürgerlichen Aufstiegs in England. Aber auch ein Zeitalter
des Kampfes um bessere Arbeitsbedingungen und bezahlbare Lebensmittel, Zeichen
einer durchaus gespaltenen Gesellschaft. Eine Spaltung, die sich in Dickens
Romanen immer wieder als Thema niederschlägt, wie Gelfert herausarbeitet und
das sich in Form der "Armenfürsorge" als drängendstes Problem jener
Zeit aufzeigte.
Von Beginn an wird im Buch deutlich, dass Gelfert die engen Verbindungen
zwischen Person, Werk und Zeitgeschichte zu ziehen vermag und diese immer wieder
am Lebenslauf Dickens nach verfolgt und nachweist. Von der Geburt am 10.2.1812
beginnend bis zum Tod Dickens am 9. Juni 1870. Eine Lebens- und Schaffenszeit,
in der Gelfert auch nicht versäumt, die unglückliche, erste Leidenschaft von
Charles Dickens zu Maria Beadnell genauer zu beleuchten. Denn diese, wie auch
andere prägende Personen und Erlebnisse in Charles Dickens Lebens fanden
umgehend Eingang in sein Werk. Die Dora Spenlow in David Copperfield ist jener
realen Maria Beadnell nachempfunden.
So entfaltet sich Seite für Seite, nicht immer einfach im Stil, stets aber
kundig und hochinteressant, ein verwobenes Lebensbild eines genialen
Schriftstellers, der als Kind seiner Zeit und als Verarbeiter seiner
persönlichen Lebensumstände (Die literarische Figur des Mr. Micawber ist
seinem Vater nachempfunden, wie man in vielen der Figuren des Dickenschen Kosmos
immer wieder Parallelen zu ihm bekannten, ihm wichtigen Personen zu ziehen
vermag) Werke von dauerhaftem Bestand und genauer Menschenkenntnis geschaffen
hat, die untrennbar mit seinem eigenen Leben verbunden sind.
Ebenfalls verdeutlicht Gelfert die unterschiedliche Rezeption des Werkes und der
Person des Schriftstellers. Oliver Twist und David Copperfield, das sind die
bekanntesten Werke außerhalb der englischsprachigen Welt. Im englischen
Sprachraum allerdings steht über allem im Werk von Dickens "Eine
weihnachtliche Geistergeschichte". Ein Märchen, in dem Dickens meisterhaft
seine Kritik an den herrschenden Verhältnissen in fiktiver Form aussprach. Eine
Kritik an der Ausbeutung von Kindern in Fabriken, die, typisch Dickens, dieser
nicht am Symptom festmacht, sondern an den Ursachen, den "harten
Herzen" der Industriebarone, für die Scrooge in der ersten Erzählung der
"Geistergeschichten" steht.
Leben, privates Erleben, Zeitgeschichte, Werkgeschichte, Interpretationen
einzelner Werkteile und, immer wieder, die Querverbindungen zwischen allen
Einflüssen im Leben des Charles Dickens auf sein Werk machen dieses
Autobiographie zu einer ergiebigen Quelle für Person und Werk des großen
Zeitkritikers Charles Dickens, der für seine Kritik an den Härten der
Gesellschaft sein Talent zur poetischen und tiefgreifenden Form zu nutzen
verstand.
Fazit
Ergänzt durch ausführliche Zeittafeln zur Lebensgeschichte und zur
literarischen Rezeption bildet das Buch eine umfassende und hochwertige
Biographie.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 01. Oktober 2011 2011-10-01 13:52:33