Die Westfjorde sind eine dünn besiedelte zerklüftete Halbinsel im Norden
Islands, die an die Grönlandsee grenzt. Die drei Personen, die der Bootsführer
an einem Winternachmittag in dieser abgelegenen Gegend zu einem verlassenen
Dorf bei Hesteyri übersetzte, wussten offenbar nicht, auf was sie sich
einließen. Mit ihren Vorräten und dem mitgebrachten Brennholz würden sie eine
Woche lang auf sich gestellt sein, bis sie wieder abgeholt werden. Der
pensionierte Kapitän am Steuer des kleinen Bootes hält sich nicht für
abergläubisch, doch dass die Fremden gerade dieses Haus gekauft haben, macht
ihm Sorgen. Für den Notfall und zu seiner eigenen Beruhigung überlässt er
seinen Passagieren die Schlüssel zu einem Nachbarhaus, das im Winter nicht
benutzt wird. Die Gegend von Hesteyri war mit dem Ende des Walfangs von den
meisten Bewohnern verlassen worden. Lífs verstorbener Mann Einar kam der
Gedanke, hier ein Gästehaus zu eröffnen, als er auf einer Wanderung eine
Unterkunft suchte. Katrin, Garðer und Líf wollen das isländische Holzhaus nun
renovieren, das von einem Vorbesitzer halbfertig wieder aufgegeben worden war.
Katrin und Garðer haben ihr Vermögen durch Islands Wirtschaftskrise
eingebüsst; Garðer ist seit damals arbeitslos. Das Projekt Gästehaus wirkt
wie eine Flucht der beiden aus der Realität.
Weit im Norden in Ísafjörður sorgt sich der Arzt Freyr um eine ältere
Patientin. Freyr lebt geschieden von seiner Frau, seit das spurlose Verschwinden
des gemeinsamen Sohnes die Beziehung des Paares in eine tiefe Krise stürzte.
Da Freyr zugleich als Allgemeinmediziner und als Psychiater arbeitet, erbittet
die Kriminalkommissarin Dágny seinen Rat in einem Fall von Vandalismus und
wegen des Selbstmordes der alten Halla. Der Gedankenaustausch der beiden
konfrontiert Freyr erneut mit dem Schicksal seines Sohnes Benjamin; denn auch in
Ísafjörður verschwand vor Jahren ein Kind. Dágny sucht nun nach einem
Zusammenhang zwischen dem verschwundenen Kind, Hallas Selbstmord und weiteren
mysteriösen Todesfällen, deren Spuren in die gemeinsame Schulzeit der
Verstorbenen zurück führen.
In Hesteyri wird das ohnehin gespannte Verhältnis der drei Hausrenovierer durch
unheimliche Ereignisse auf die Probe gestellt. Sie glauben, eine ärmlich
gekleidete Kindergestalt zu sehen, hören Stimmen und finden im Haus feuchte
Fußspuren. In einer Gegend, in der man glaubt, dass Ertrunkene zwischen den
Welten herumspuken müssen, weil sie kein Grab haben, müssen die Geräusche
eines wispernden und knackenden Holzhauses besonders unheimlich wirken. Dieser
Spuk könnte natürlich Einbildung sein. Doch würde sich der kleine Hund in
diesem Fall so auffällig verhalten?
Yrsa Sigurðardóttirs sechster Kriminalroman gönnt der Anwältin Dóra aus
Reykjavik eine Atempause als Ermittlerin und verzichtet auf das klassische
Krimi-Muster von Tat mit anschließender Tätersuche. Kommissarin Dágny
ermittelt in keinem spektakulären Fall, sondern sucht einzelne Ereignisse
miteinander zu verknüpfen. Der Mediziner Freyr assisitiert ihr dabei weniger
als Ermittler, sondern als Zuhörer, der durch sein eigenes Schicksal für das
Thema vermisste Personen sensibilisiert ist. Die Leser sind Freyr und Dágny
stets einige Schritte voraus, weil nur sie die Ereignisse in dem verlassenen
Dorf am Fjord verfolgen können.
Erst als die Masken fallen und bisher sorgfältig verborgene Konflikte
eskalieren, werden die unheimlichen Vorgänge aufgeklärt. Zur Lösung des
geheimnisvollen Falls müssen Dágny und Freyr tief in alte Geschichten
eintauchen und den Umgang der Beteiligten mit persönlichen Verletzungen
nachfühlen.
Fazit
Die düstere Szenerie eines verlassenen Ortes kurz vor Wintereinbruch belebt die
Autorin geschickt mit der konfliktreichen Beziehung seiner drei Besucher und
unerklärlichen Ereignissen, die sie dort beobachten. Sigurðardóttir
entwickelt in ihrem Island-Thriller, den ich eher als Krimi erlebe, die
Spannung hauptsächlich aus der Innenwelt ihrer Figuren und lässt ihre Leser
lange darüber rätseln, ob es für den Spuk in Hesteyri nicht doch eine banale
Erklärung geben könnte. Wer weniger Wert auf spektakuläre Taten und
ausgeklügelte Ermittlungsmethoden legt, wird gern in die Atmosphäre am
Geisterfjord eintauchen.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 28. September 2011 2011-09-28 11:32:43