Nach dem Erfolg seines Romans "Marterpfahl" und der durchaus
lesenswerten "Geisterstunden"-Collection präsentiert Stefan Melneczuk
nunmehr seinen neuen Roman "Rabenstadt" in einer auch äußerlich
wieder sehr ansprechenden Hardcoverausgabe mit einem dekorativen und auch
inhaltlich stimmigen Titelbild von Mark Freier.
Der Roman selbst ist ungewöhnlich aufgebaut, denn er beginnt mit dem Ende bzw.
einer Nachbetrachtung des Protagonisten zu den Ereignissen. Und selbst im
Verlauf der eigentlichen Handlung schildert der Ich-Erzähler seine Erlebnisse
teilweise in Rückblenden. So liegt er gleich zu Beginn verletzt und mit
Klebeband gefesselt in einem dunklen Kellerraum und versucht sich zu erinnern.
Was sofort auffällt, sind die guten Ortskenntnisse des Autors - die Handlung
spielt in einem in die Jahre gekommenen Wuppertaler Villenviertel - und seine
Fähigkeit zu anschaulichen Beschreibungen. Selbst als Ortsunkundiger (wie ich)
vermag sich der Leser die Straßen, Gärten und Gebäude des Umfeldes
vorzustellen und wird damit zum Augenzeugen des Geschehens.
Der Einstieg ist rasch wiedergegeben: Ein Paketbote (der Ich-Erzähler)
verfährt sich infolge eines defekten Navigationsgerätes im Briller Viertel und
versucht, die Zieladresse zu Fuß ausfindig zu machen. In der einsamen Gegend
begegnet er keinem Passanten, bis er schließlich vor einem Hauseingang auf ein
Mädchen triff, das auf allen Vieren hockt und eine Hundeleine um den Hals hat.
Als es plötzlich davonläuft oder -gezogen wird, setzt er ihm nach und wird
beim Eindringen in einen Garten brutal niedergeschlagen. Er verliert das
Bewusstsein und erwacht irgendwann später in besagtem Keller.
Zum Glück widersteht der Autor der Versuchung, die Gefangenschaft bzw. das
Martyrium des Handlungsträgers so exzessiv in die Länge zu ziehen, wie es
prominentere Autoren wie Stephen King schon häufiger praktiziert haben. Auch
wenn dem Gefangenen ausreichend Gelegenheit zu Selbst- und Weltbetrachtungen
gegeben wird, verspürt der Leser nie den Drang, mangels Handlungsfortschritts
einfach ein paar Seiten zu überblättern. Angesichts des vorweggenommen
Ausgangs des Abenteuers ist das keine geringe Leistung des Autors. Die Person
des Täters bleibt lange Zeit über im Dunklen, und als er schließlich in das
Geschehen eingreift, kommt es auch schon zu einem dramatischen Showdown. Damit
ist der Roman jedoch nicht zu Ende, denn der Paketbote ist selbst Träger eines
dunklen Geheimnisses, das sich erst später offenbart. So wird der Leser auch
jenseits des Ortes des Verbrechens mit seelischen Abgründen und
Alptraumszenarien konfrontiert, die auch ihn jederzeit betreffen können.
Fazit
Vielleicht ist das sogar die eigentliche Leistung des Buches, dem Leser über
den an sich schon grausigen Kriminalfall hinaus die Augen für die dunklen
Seiten menschlicher Existenz zu öffnen. Die "Rabenstadt" Wuppertal
ist hierfür ein perfekter Rahmen, und drei zusätzliche Geschichten vom
"Kreuz Wuppertal-Mord" runden den Lesegenuss ab. Mit
"Rabenstadt" liefert Stefan Melneczuk einmal mehr den Nachweis, dass
er auch jenseits der Schubladen des Genres zu den herausragenden
"Spannungsautoren" dieses Landes gehört.
Vorgeschlagen von frankh
[Profil]
veröffentlicht am 22. September 2011 2011-09-22 22:26:27