Wegweisungen verschiedenster Richtungen
"Beende das Gerede, schließe die Türen, dämpfe den Eifer, löse die
Verwirrung, mindere den Glanz, finde den Grund". Diese alten Worte Laozis
weisen einen der möglichen Wege zur Weisheit und legen zugleich das Dilemma mit
der Weisheit offen. Während es über Jahrhunderte durchaus gesellschaftlich in
Teilen anstrebenswert war, "weise" zu werden und die entsprechenden
Wege eine gewisse, allgemeine Wertschätzung fanden, wirken diese alten Worte
gegenwärtig wie ein absolutes Gegenprogramm zur anerkannten Ausrichtung
modernen Lebens.
Volle Terminkalender zeugen von Wichtigkeit, geschliffene Rede führt mehr zur
Anerkennung als Schweigen, offene Türen dienen dem Vorwärtskommen, Eifer zeugt
von Ehrgeiz und im Glanz möchte man sich sonnen. Und dennoch ist jene im Buch
mehrfach betonte innere Suche nach Ausgeglichenheit, Souveränität und
Umsetzung der eigenen Erfahrungen weiterhin lebendig. Nur nicht "einfach
so" zu haben, zu heben, nicht trainierbar. Daher geht Hanne Tügel einen
deduktiven Weg, um dem Ideal auf die Schliche zu kommen. Ist das Ganze nicht
"einfach so" fassbar, könnte der Weg über die Einzelteile, aus denen
sich das größere Ganze der Weisheit zusammensetzt, eher gangbar sein. Hier
setzt sie mit ihren Recherchen an und bietet im Buch einen breiten Blick auf die
verschiedensten Herangehensweisen und Definitionen von Weisheit. Von der
Weisheit Salomos, von empirisch wissenschaftlichen Untersuchungen über durchaus
auch eine "Entzauberung" bekannter "Gurus" (Gandhi, der auch
starrsinnig sein konnte, Krishnamurti, der ein rechter Frauenheld war, Mutter
Theresa, die nicht in allem "nur gut" gehandelt hat).
Und kommt immer mehr einem destillierten Kern nahe, den man
"Alltagsweisheit" nennen könnte. Einem Kern, der für jeden wie
greifbar im Raume steht, der sich eher im Kleinen denn im Großen entwickeln
kann, der nicht an "strahlende" Persönlichkeiten sich knüpft sondern
an die alltäglichen Möglichkeiten des einzelnen. Allerdings, "man muss
sich in gewisser Weise selber überlisten, um diesen Schatz zu heben".
Karl Jaspers führt die Autorin in diesem Sinne, ein wenig wie nebenbei, ein.
Jaspers, welcher der Zeit der Muße, des Träumens, der Selbstvergewisserung den
wichtigsten Platz im bewussten Leben einräumen möchte. "Wer nicht
täglich eine Weile träumt, dem verdunkelt sich der Stern, von dem alle Arbeit
und jeder Alltag geführt werden kann". Hier findet sich nun die Essenz der
Gedanken des Buches. Weisheit ist eine Sehnsucht des Menschen, die sich auf
innere Souveränität, Ruhe, Gelassenheit und Selbstgewissheit richtet. Die
einhergeht mit einer Haltung der Welt gegenüber, die bereit ist, die eigenen
Grenzen zu erkennen, Selbsteinsicht zu zeigen, Verschiedenheit zu tolerieren,
emotionale Balance zu finden, ethisches Verhalten zu kultivieren und noch
einiges mehr. Die man nur erlangt, wenn man sich "Zeit für die
Weisheit" im Jasperschen Sinne nimmt.
Wie das werden kann, wie der Weg vom Ideal zur Praxis gefunden und gegangen
werden kann, wie jenes "eigentlich bin ich ganz anders, nur komm ich so
selten dazu" im Leben bearbeitet werden kann, all dies beleuchtet Tügel im
Buch aus verschiedenen Blickrichtungen, Denkrichtungen, philosophischen
Traditionen und legt so ein Brevier der Weisheit vor Augen.
Fazit
Verständlich und fundiert regt das Buch Seite für Seite dazu an, sich selbst
mehr in den Blick zu nehmen und die eigene (oft nutzlos hektische)
Alltagsgestaltung an dem zu überprüfen, was die eigentliche Sehnsucht und die
eigentliche Zielvorstellung sein mag. Weisheit als Lebenshaltung, die hat auf
keinen Fall ausgedient, das spürt man dem Buch umfassend ab. Wer im 14. Kapitel
dann für sich anzunehmen versteht, das die "Business Punks" einen
einfachen Irrweg darstellen und das der andere Weg sich mit allen Rückschlägen
und zivilisatorischen Gefährdungen lohnt, der wird einen hohen Gewinn aus der
Lektüre des Buches ziehen können.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 11. September 2011 2011-09-11 13:07:38