"Ich verstehe etwas von Pferden." Wanda ahnte noch nicht, welch
unerwartete Wende dieser Satz in ihrem Leben bringen würde. Als Tochter eines
Professors für deutsche Literatur wuchs Wanda in Krakau auf, erzogen von einem
deutschen Kindermädchen, über dessen rheinischen Dialekt die Familie sich
heimlich amüsierte. Im letzten Kriegswinter 1944 waren alle arbeitsfähigen
deutschen Männer längst zur Wehrmacht eingezogen und nur noch Jungen unter 16
und Nichtkriegstaugliche als Arbeitskräfte zurückgeblieben. Wanda wird in
Krakau von den deutschen Besatzern in einen Transport polnischer Fremdarbeiter
gezwungen. Ihre vorlaute Bemerkung bringt sie als Pferdeknecht auf das
(fiktive) schlesische Gut Hohenau nahe der Grenze zum damaligen
Generalgouvernement Polen. Dass Wandau perfekt Deutsch spricht, verheimlicht sie
und spielt die Rolle eines unbedarften Mädchens vom Land. Für Inge, die
Tochter des Gutsbesitzers, ist die gleichaltrige Wanda eine Dienstbotin,
zuständig für die Pflege der Pferde und das Ausmisten des Stalls. Inge ist in
diesem Winter 18 Jahre alt und hat sich ohne Wissen ihrer Eltern mit dem Sohn
der Nachbarn verlobt. Da Wolfgangs Eltern offenbar Mitglieder der NSDAP sind,
hätten Inges Eltern dieser Verbindung niemals zugestimmt. Wolfgang behandelt
die Frau, die er heiraten will, wie ein Kind und auch Inges Vater schweigt über
den Kriegsverlauf, um sich und seine Familie nicht in Schwierigkeiten zu
bringen.
Durch einen dummen Zufall wird Inge auf der Flucht vor der nahenden Roten Armee
von ihren Eltern getrennt. Sie und Wanda sind allein auf dem Gut
zurückgeblieben, so dass die beiden gegensätzlichen Mädchen wohl oder übel
dem Flüchtlingstreck mit einem Pferdefuhrwerk folgen. Aus Wanda wird auf dem
Treck gen Westen Waltraud; denn niemad darf wissen, dass Inges angebliche
Schwester eine polnische Fremdarbeiterin ist. Zwei junge Frauen, die einander
bisher immer verachteten, müssen in der Not zusammenhalten. Inge, die behütete
und verwöhnte Tochter des Gutsbesitzers, hasst sich für ihre Hiflosigkeit in
alltäglichen Dingen und sie hasst Wanda, weil sie auf sie angewiesen ist. Auf
der Flucht ist sich jeder selbst der Nächste, lernen beide schon in den ersten
Tagen. In Rückblenden erinnerst sich Wanda an ihr Leben in Krakau, an ihre
erste große Liebe zu Marek und an den Tag, als sie mit dem
Fremdarbeitertransport nach Gut Hohenau kam. Nach beinahe einem halben Jahr
gelangen die beiden Frauen auf ihrer Odysse über Görtlitz und Dresden im
Frühsommer 1945 in ein Flüchtlingslager in der Nähe von Nördlingen. Das Ende
der Flucht wirkt nach einer Reihe glücklicher Wendungen abrupt und
übertrieben positiv. Die Autorin berichtet im Nachwort, wie sie auf die Idee
kam, einen Jugendroman über eine Flucht aus Schlesien zu schreiben und welche
Quellen sie verwendete. Eine Landkarte und zahlreiche Anmerkungen erleichtern
die Auseinandersetzung mit dem Thema; Begriffe aus der Zeit des
Nationalsozialismus sind mit einem Stern markiert und im Anhang erklärt.
Fazit
Die Erlebnisse zweier gegensätzlicher junger Frauen, die auf ihrer Flucht aus
Schlesien zu einer Notgemeinschaft zusammenwachsen, bringen jungen Lesern das
Schicksal der Flüchtinge nach dem Zweiten Weltkrieg nahe. Inge und Wanda
werden mit ihren Schwächen und Fehlern sehr glaubwürdig geschildert. Gina
Mayer trifft mit ihrem Jugendroman einen angenehm sachlichen Erzählton, der dem
noch immer heiklen Thema Flucht guttut.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 03. Juli 2011 2011-07-03 10:09:43