Winnetou I ist meines Erachtens der wichtigste Band Karl Mays überhaupt. Er
beschreibt die Entstehung der Freundschaft zwischen Winnetou und seinem weißen
Freund Old Shatterhand. Der Erzähler, den widrige Verhältnisse aus Deutschland
in die Vereinigten Staaten verschlagen hat, wird zunächst Hauslehrer in St.
Louis. Bald schließt er sich Westmännern unter Führung des gutmütigen und
integren Sam Hawkens an. Diese beschützen Weiße, die eine Eisenbahnlinie durch
das Land der Apatschen vermessen sollen. Denen ist dies nicht recht und es kommt
bald zu erbitterten Kämpfen zwischen den Weißen und den Apatschen, die May mit
viel Sympathie beschreibt. Zwar verbünden sich die Weißen zeitweise mit den
Kiowas, die allerdings selber keine guten Absichten hegen und lediglich
Raubzüge gegen die Apatschen planen. Die Weißen sollen dabei helfen und
später selber ausgeraubt werden. Doch die Apatschen besiegen nach wechselvollen
Kämpfen sowohl die Weißen als auch die zunächst mit ihnen verbündeten
Kiowas. Dabei wird allerdings der Lehrmeister der Apatschen, der weisse Deutsche
Klekih-Petra von einem weißen Verbrecher erschossen. Letzlich kann der
Ich-Erzähler jedoch die Apatschen von seinen guten Absichten überzeugen. In
den vorher geschilderten Ereignissen hatten die Kiowas zeitweise die beiden
Apatschenhäuptlinge gefangen genommen. Old Shatterhand - voller Sympathie für
die Apatschen - verhalf Winnetou, dem Häuptlingssohn und Titelfigur der
Trilogie, zur Flucht. Als er dies später, nachdem er von den Apatschen gefangen
genommen worden ist, beweisen kann, werden er und seine weißen Gefährten
freigelassen, nachdem Shatterhand zuvor noch durch eine List Winnetous Vater
Intschu-tschuna, den Häuptling besiegt hat. Lediglich der Mörder Klekih-Petras
muss sterben. Winnetou und Shatterhand werden nun Blutsbrüder. Old Shatterhand
wird von Winnetou in allen Fähigkeiten des Wilden Westens unterwiesen. Um
Shatterhand an die Apatschen dauerhaft zu binden, soll er mit Winnetous
Schwester, Nscho-tschi, verlobt werden. Damit sie seinen Ansprüchen genügt,
soll sie in St. Louis eine Schule der Weißen besuchen. Auf dem Weg dorthin
werden Winnetous Vater und Nscho-tschi jedoch von weißen Verbrechern ermordet.
Der Haupttäter Santer kann jedoch zu den Kiowas entkommen. Durch eine
Unvorsichtigkeit gerät Sam Hawkens in die Hände dieser Indianer. Zwar kann er
befreit werden, jedoch Santer entgeht der gerechten Strafe.
Wie G. G. Sehm in seinem bemerkenswerten Aufsatz "Der Erwählte" zu
recht festgestellt hat, ist die Winnetou-Trilogie, insbesondere Band I, die
Geschichte einer tiefen Männerfreundschaft. Um diese zu entwickeln und Winnetou
noch stärker an Shatterhand zu binden, müssen - erzähltechnisch gesehen -
Intschu-tschuna, der Vater, und Nscho-tschi, die Schwester, beiseite treten und
daher sterben. Anderenfalls würde die Persönlichkeit Winnetous in den
späteren Bänden nicht derart zentral ausgebaut werden können. In den
späteren Werken des Autors, insbesondere in "
Old Surehand" und den im Wilden
Westen spielenden Jugenderzählungen, werden Winnetou und Shatterhand zu den
"Superhelden" des Westens.
Hier ist sicherlich viel Übertreibung im Spiel. Im Gegensatz zu Cooper,
Sealsfield und seinem deutschen Zeitgenossen Friedrich Gerstäcker hat May erst
im hohen Alter, 1908, Amerika besucht und die gesamte Handlung erfunden.
Aber: spricht dies nicht für ihn? Ernst Bloch hat in einem bemerkenswerten
Aufsatz May einen der "besten deutschen Erzähler" genannt. Er
schreibt unwahrscheinlich spannend. Wer als Kind nur an der Handlung
interessiert war, kann sich als Erwachsener an den wunderbaren
Landschaftsbeschreibungen erfreuen. Die Charaktere sind zugegebermaßen
dualistisch - hier die Guten, dort die Bösen. Man sollte aber bedenken, dass
May diesen Charakteren trotz allem Unverwechselbarkeit und Tiefe verleiht, man
denke nur an die skurril-witzige Figur des Sam Hawkens. Der Karl-May-Experte und
-biograph Helmut Schmiedt schreibt im hervorragenden Handbuch des
Karl-May-Verlages aus dem Jahre 2001: "Winnetou I nimmt in Mays Gesamtwerk
schon deshalb eine Schlüsselstellung ein, weil der Autor hier die maßgebliche
Version vom Reifeprozess seiner wichtigsten Wildwest-Figur Old Shatterhand und
von dessen Freundschaft mit Winnetou, der wohl populärsten Gestalt des
Erzählers überhaupt, formuliert. Erst auf dieser Basis gewinnt Mays
nordamerikanischer Schauplatz die unverwechselbaren Konturen einer mythischen
Welt eigener Art... Einigkeit besteht heute am ehesten in der Überzeugung, dass
Winnetou I ein Schlüsselwerk für das Verständnis nicht nur der Romane Mays,
sondern der Abenteuerliteratur überhaupt ist."