Theorie und Praxis der hedonistischen Haltung
Gründlich und ernsthaft geht Bernulf Kanitscheider in seiner Untersuchung dem
Hedonismus nach.
Von seiner Entstehung in der griechischen Philosophie der Antike (epikur) bis zu
konkreten und praktischen Ausformungen der Gegenwart spannt Kanitscheider den
Bogen seiner überwiegend theoretischen und argumentativ begründeten
Betrachtungen, die, wenn auch oft nicht offen zugegeben, dem westlichen
Lebensmuster mehr und mehr inne wohnt.
Freude, Glück und Lust bilden im Hedonismus die obersten Zielvorstellungen und,
trotz einer immer noch innewohnender, protestantischer Arbeitsethik und eines
offiziellen Geringachtens der "Lust" und des "Lustprinzips",
ist doch deutlich gesellschaftlich erkennbar, dass in den letzten 30-40 Jahren
die Zielvorstellungen westlich geprägter Menschen sich in diese Richtung hin
entwickelt haben (Ausnahmen bestätigen die Regel).
"Selbstverwirklichung" ist eines jener Schlagwörter, dass von Beginn
an in eine solche, der Steigerung des persönlichen Wohlbefindens, der
Abwesenheit von Schmerz und, zudem, einen Entzug von möglichst viel
Verantwortung mit sich schwingen lässt. Haltungen wie "Job statt
Beruf", Lebensabschnittspartner statt lebenslange Ehe" deuten deutlich
darauf hin, dass ein möglichst breiter Raum ungestörter, persönlicher
Freiheit eines der wichtigsten Elemente in den Zielen modernen Lebens ist.
Dass eine solche Haltung keine "moderne" Erfindung darstellt, sondern
historisch tief verwurzelt sich im Lebensvollzug und der philosophischen
Überlegung wiederfindet, das weist nun Kanitscheider nachdrücklich nach.
Beginnend beim Naturalismus der griechischen Philosophie, in der die Ausrichtung
auf das "Diesseits" ihre Grundlagen findet.
Nach einer Positionierung des Ansatzes im Gesamtgebäude philosophischer
Überlegungen, wendet er sich fünf Hauptteilen dem Hedonismus in aller
Gründlichkeit zu. Die Philosophie der Lust zeigt das Rahmengerüst des
Hedonismus auf. Die dunkle Macht der Triebe verankert dieses in den Emotionen.
Kognitive und moralische Aufklärung geht dem Hedonismus in Fragen der Tugend,
der Begierden, der Freiheit und im Rahmen analytischer Philosophie und
Tiefenpsychologie nach, bevor auch naturale Fundamente (Die Chemie der Gefühle,
evolutionäre Determinanten u.a.) zu Wort kommen. Hier ist besonders das Kapitel
über "Liebe, Besitz und Eifersucht" hervorzuheben, im Rahmen dessen
Kanitscheider die "Romantik" gründlich entzaubert und alternativen
"offener Beziehungen" durchaus überzeugend in den Raum zu setzten
vermag.
Abgeschlossen werden die Untersuchungen und Einlassungen durch den
gesellschaftlichen Bezug, der "Hedonist und die anderen" bietet den
Brückenschlag von der "Eigenliebe" hin zu Freundschaft und
Geselligkeit, somit zur sozialen Verbindung. Und dies ganz pragmatisch,
egozentrisch, nicht plakativ und fordernd.
Wer beim Titel des Buches an eine lockere und vielleicht ironisch nicht ganz
ernst zu nehmende Betrachtung genussvollen Lebens denken mochte, wird schon auf
den ersten Seiten des Buches (und im Folgenden durchweg) eines Besseren belehrt.
Bernulf Kanitscheider legt eine komplexe und wissenschaftliche Untersuchung vor,
anhand derer sich der individuelle Freiheitsbegriff und die daraus resultierende
individuelle Lebensgestaltung im Rahmen einer liberalen Gesellschaft mit dem
Ziel höchstmöglichen Genusses im Leben fundiert herleitet. Sprachlich
ebenfalls nicht einfach zugänglich fordert das Buch ein konzentriertes
Erarbeiten. Durchaus differenziert erläutert Kanitscheider die Entwicklung des
Hedonismus und seine möglichen Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft
(z.B. die Auflösung monogamer ehelicher Beziehungsformen) und stellt so ein
fundiertes Gedankengebäude jener spürbaren Ablehnung eines "Wein, Weib
und Gesang", mithin eines Lebensstils, der sich dem Genuss mehr zuwendet
als der Pflicht, gegenüber.
Fazit
Fundiert und komplex bietet das Buch eine Darstellung und Begründung des
Hedonismus aus philosophischer, psychologischer und naturalistischer Sicht,
wobei die jeweiligen Argumente und Forschungsergebnisse erkennbar subjektiv vom
Autor ausgewählt wurden. Eine grundlegende, kritische Reflektion
möglicherweise negativer Folgen der Haltung und ebenso eine kritische
Würdigung jener Philosophie und naturalen Wissenschaft, die gegen die
Etablierung eines Hedonismus ins Felde geführt werden könnten, finden im Buch
keinen ausreichenden Platz. Dennoch gelingt es Kanitscheider ohne sture
Ideologie, die "Lust", die dem Hedonismus zugrunde liegt, aus ihrem
"niedrigen Platz in der Skale der moralischen Werte" heraus zu lösen
und in ihrer Bedeutung für das praktische Leben deutlich zu würdigen. Ein
wenig mehr richtig verstandenen "klugen" Hedonismus ins Leben zu
bringen wäre durchaus angemessen und würde aus rein egozentrisch-pragmatischen
Überlegungen das Zusammenleben der Menschen durchaus angenehmer und friedlicher
gestalten. Und nach der Lektüre des Buches wäre dies nun auch klar zu
begründen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 30. Mai 2011 2011-05-30 16:10:05