Entgleisungen und Ohnmacht
Emotional und sensibel, den Leser mit hineinnehmend in die Verwirrungen der
Gefühle, dass ist das Markenzeichen Jodi Picaults. Eine emotionale Dichte, die
den Verlauf der Geschichte und die Hintergründe des Geschehens nicht
vernachlässigt, sondern zu einem ganz eigenen Lesevergnügen zu gestalten
weiß. Auch in ihrem neuen Buch gelingt Picault dies. Und wiederum nimmt sie
sich eines Themas an, dass so zwar nicht neu, immer noch aber ein oft
verschwiegenes ist.
Vergewaltigung.
Erschwert noch durch das jugendliche Alter der Beteiligten.
Eine Vergewaltigung, um die Picault keineswegs einen peinlichen Bogen macht,
sondern die sie klar und deutlich offen legt. Eine Vergewaltigung, die einen
Mord nach sich zog. Aber, wie so häufig bei Picault, so ganz sicher kann sich
der Leser nie sein, dass die offenkundigen Schlüsse und vor Augen liegenden
Ereignisse auch wirklich das sind, was geschehen ist. Auch dies ein
literarisches Stilmittel, vermittels dessen Picault die Spannungskurve der
Geschichte bis zum Ende hoch zu halten versteht. Und das ist noch lange nicht
das einzige, was manche Figuren im Buch verschwiegen mit sich herum tragen.
Trixie, die Hauptfigur des Buches, ist 14 Jahre alt, bis über beide Ohren
verliebt in Jason, den jugendlichen Sporthelden des Ortes. Für eine Weile war
sie ihm nahe, dann hat er sich abgewendet, doch auf einer Party geht Trixie noch
einmal aufs Ganze. Einen Versuch, den Jason missversteht (oder vielleicht auch
nicht?). Trotz ihres Sträubens schläft er mit Trixie. Ein klassischer Fall von
Vergewaltigung. So zumindest stellt es sich dar. Doch dann wird Jason ermordet.
Trixie flieht, denn sie ist die Hauptverdächtige. Nichtsahnend, dass sie am Ort
ihrer Flucht noch ganz anderen (Familien-) Geheimnissen auf die Spur kommen
wird.
Eine Fülle von Themen entfaltet sich beim Lesen. Die Pubertät mit ihren
massiven Gefühlsschwankungen, mit ihrem Austesten von Grenzen und diese hier
und da überschreitend. Themen der Vergewaltigung, des Mordes, mithin eines
Kriminalfalles samt im Raume stehender Ermittlungen. Familiäre Geheimnisse, die
seit langem gut verborgen schlummern und doch zu Tage treten werden. Früher
oder später holt einen eben doch ein, was an Fehltritten begangen wurde. Aber
stimmt es wirklich, die Sache mit Jason, die Trixie aus ihrer Sicht ganz anders
wahrgenommen hat als andere Beteiligte? Und wer hat Jason ermordet,
eigentlich?
Der Einstieg des Buches gibt dem gesamten Roman die Richtung vor. Picault setzt
Dantes Inferno in den Raum. "... wenn man es auf das Allerwesentlichste
konzentrierte, ging es vor allem um einen Menschen, der tief in der Krise
steckt, einen Menschen, der die Entscheidungen hinterfragte, die er im Lauf
seines Lebens getroffen hat".
Dieser Einstieg aus den Gedanken von Trixies Mutter Julia bietet das Bindeglied,
die Verflechtung zwischen all den Erzählsträngen und Figuren des Buches. Denn
schuldig in der ein oder anderen Form ist jede der handelnden Personen und all
diese Schuld ist verständlich und nicht in einfachen Gut und Böse Schablonen
abzuhandeln.
Fazit
Jodi Picault legt eine gelungene Betrachtung vielfachen menschlichen Versagens
und menschlicher Schuld vor und führt den Leser mitten hinein in die innere
Welt ihrer Figuren, die einen so schnell nicht wieder aus ihrem Bann lassen.
Flüssig und gut geschrieben, vielleicht in den äußeren Ereignissen nicht
sonderlich spannend, aber in der inneren Entwicklung der Geschichte auf den
Punkt getroffen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 26. Mai 2011 2011-05-26 14:05:56