Degeneration und Auflösung
Perkus Tooth hat das Zeug zur Kultfigur, auch wenn er gar nicht die alleinige
Hauptfigur des epischen Romans von Jonathan Lethem ist. Dennoch ist diese Figur
mit dafür zuständig, dass von Beginn an ein Hauch von surrealem Abgesang über
dem ganzen Buch liegt. In Tooth bündelt sich nicht nur der Niedergang eines
ehemals in seinen Kreisen bekannten Musikkritikers, ein Niedergang, der mit
seiner Tätigkeit als professioneller Musikkritiker begann, sondern zugleich ist
er auch ein Bild für eine Form des kulturellen Niedergangs der ehemaligen
Kulturhauptstadt New York. Ein Bild dessen, dass die Stadt (und mit ihr durchaus
allgemein geltend) ihren kulturellen Bodensatz verliert, den Humus der Subkultur
und er freien Experimente innerhalb dieser..
Allein schon die Absteige, die Trooth Wohnung nennt, zeigt, wohin die ehemals
Pop-Kultur orientierte Szene nach 2001 sich entwickelt hat.
Auf diesen Perkus Tooth nun trifft der Ich Erzähler des Romans, Chase
Insteadman (der "Statt-dessen Mann") gleich im ersten Satz des Buches
und von da an verbinden sich die vor sich hin mäandernden Geschichten der
beiden Männer. Der Beginn einer "wunderbaren Freundschaft", passend
zur Tätigkeit von Chase Insteadman, der gerade eine Dokumentation zu einem
längst vergessenen Film einsprechen soll. Eine wunderbare, alte Filmzeit, die
Insteadman auch für sich hinter sich liegen hat als nun materiell relativ
unabhängiger, ehemaliger Fernsehkinderstar. Und eine Freundschaft mit Folgen.
Mit nicht sonderlich gesunden Folgen für Chase.
Hinzu treten im Lauf der Zeit vielfache, ebenso exotisch gezeichnete Charaktere,
die eines vor allem verbindet. Alle gehören in der ein oder anderen Form zu
einer selbsternannten High Society der Stadt. Selbst die offizielle Verlobte von
Chase Insteadman (neben seiner Geliebten, natürlich) ist eine Berühmtheit. Sie
treibt als Astronautin in einer defekten Weltraumstation dem Tod entgegen und
nutzt die ihr verbleibende Zeit, um einen rührenden Liebesbrief nach dem
anderen an ihren irdischen Verlobten zu senden. Landesweit beachtet und
abgedruckt, während Chase sich gutem Marihuana hingibt und in endlosen
Diskussionen über Filme mit Perkus die Zeit verstreichen lässt, so nicht
gerade eine Party ruft und lockt, die er als B-Promi schmückt.
Bizarr und nicht ganz real ist diese Welt, die Lethem in seiner Geschichte
entfaltet, aber doch real genug, um in all den fantastischen Begebenheiten
erkennen zu lassen, wie sehr der Niedergang der vormaligen Intelligenz und
Subkultur voranschreitet. Ein Symbol für dieses Verständnis vom Niedergang ist
der Architekt Noteless im Buch, der sich als Künstler versteht, riesige Löcher
in die Stadt schlägt und damit bildhaft zeigt, wie der Verfall voran schreitet.
Was wundert es, dass Chase Insteadman in all diesem Taumel sich mehr und mehr
"niedergeschlagen und verloren" fühlt und hier und da daran
zurückdenkt, wie gepflegt und, vor allem, rücksichtsvoll wohlerzogen er war,
bevor er Perkus Tooth kennenlernte. Einer, der das Gefühl zu schildern weiß,
sein "Leben entleert" zu haben. Aber war es je gefüllt?
Vieles ist nicht, wie es scheint, dass vor allem bleibt zum Ende der Lektüre.
Selbst die melodramatische Geschichte der Astronautin und ihres irdischen
Verlobten wird augenreibend sich noch ganz anders darstellen, als es zu Beginn
scheint. Auch dies ein treffendes Bild für diese Geschichte, in der deutlich
wird, das der Schein schon längst alles Sein überholt und hinter sich gelassen
hat. Große Reden als heiße Luft, die durch nichts von Substanz gefüllt werden
und hinter denen nur mehr die Vorherrschaft des Geldes und der Vermarktung die
einzig wirklich tragende Rolle spielen. Ein Sujet, dass Lethem in bester Weise
durch ein ständiges von Nebel, Schneefall oder Rauch getrübtes New York
einfängt. Ein Dunst, der nicht mehr klar sehen lässt und in dem eine wirkliche
Orientierung fehlt. Kurzlebiger Schein, das ist alles, was in dieser leicht
ver-rückten Welt aus Chronic City noch antreibt und über bleibt. Auch Chase
selbst ist ja einer derer, die ihr Leben nur gespielt haben (und, wie sich
herausstellen wird, weiterhin in wesentlichen Teilen nur spielt). Oder ist das
alles hier nur eine großangelegte Täuschung? Ein Buch gewordenes
"Matrix"? Alle Namen des Buches deuten darauf hin, dass hier mit einer
doppelbödigen Wirklichkeit gespielt wird, die keine wirklichen Anhaftpunkte
für ein stabiles Leben mehr zu geben vermag. Auch die Hoffnung, die Chase in
Trooth steckt für das Finden eines realen Ankerpunktes, trügen.
Fazit
Ein düsteres und dennoch wahres Bild, dass Lethem mit überbordender Fantasie
und wortreicher Sprachmacht zeichnet. Ein Bild, dass einen nicht mehr loslässt,
so man in die Welt von Chronic City einmal eingetaucht ist.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 23. März 2011 2011-03-23 12:01:53