Narrative Symbolisierung des historischen Ereignisses
Das geschichtsträchtige Symbol des Kniefalls Willy Brandts ist in seiner
symbolischen Kraft entstanden aus einer Wechselwirkung zwischen der Handlung
Brandts und der Narrativität (vor allem in der Presse).
Das ist die Grundthese des Buches, welche im Buch einer Untersuchung unterzogen
wird und das ist zugleich das Ergebnis dieser Untersuchung im Rahmen der
historischen Kulturwissenschaft. Noch einen Schritt weiter geht der Autor, wenn
er konstatiert, dass der Kniefall Brandts zu einer Art christlicher
"Kreuzigungsikone" sich entwickelt hat und nur auf diesem
christlich-symbolischen Hintergrund vollständig zu verstehen ist. Eine These,
die nach näherer Betrachtung im Buch nicht von der Hand zu weisen ist,
vergleicht man hier vor allem die Plastik von Giustis, die Brandt an einem
stilisierten Kreuz zeigt und die Einlassungen des Autors in der Interpretation
der Plastik.
Wie überhaupt die Argumentationskette durch Christoph Schneider äußerst
fundiert vorgelegt wird und er im Verlauf des Buches umfassend aufweist, mit
welcher Macht die Narration Ereignisse deutet, umdeutet und in größere
Zusammenhänge stellt. Natürlich verbleibt als auslösendes Moment immer noch
die Kraft der Handlung an sich.
Die Wirkungsgeschichte aber und die letztlich verankerte Deutung, die gerade den
Kniefall Brandts zu einem der entscheidenden politischen Symbole der jüngeren
Vergangenheit gemacht hat, ist im Buch eindeutig der Adaption durch die Presse
und der weiterführenden Narration zuzusprechen.
Um dies im Blick auf dieses konkrete, historische Ereignis zu verifizieren legt
Schneider zunächst eine ausführliche und grundlegende Darstellung des
Forschungsstandes in Hinsicht von Transformationen der Identität und des
Rituals und der Verbindung zwischen Narration und Symbol vor. Schon diese
grundlegenden Einlassungen zur Untersuchung von Symbol, Narration,
Transformation, zum Pathos, zur Symbolik der Sprache und vielem mehr bieten
einen ganz exzellenten Einblick in den grundlegenden Stand kulturhistorischer
Wissenschaft und lohnen das Lesen überaus. Ein Einblick, den Schneider immer
wieder mit dem konkreten Ereignis verbindet, bevor der sodann das konkrete
Ereignis in drei Entwicklungsebenen untersucht.
Zunächst das Ritual und Ereignis als auslösende Kraft als solches, als
"Sich-Zeigen des Außer-Ordentlichen". Erst wenn Außerordentliches
einem Ereignis spürbar innewohnt, vollzieht sich ein Folgeschritt, das Ereignis
erhält einen nachfolgenden, erweiternden und interpretierenden narrativen
Rahmen, im Falle Brandts in der deutschen Presse zunächst. Eine Adaption, die
im christlichen Kreuzesverständnis einmündet ("Der kniende Kanzler.
Vergebung durch Erniedrigung"). Eine narrative Einordnung, die im Jahre
2000 in einem eigenen Denkmal für Brandt und seinen Kniefall mündete und damit
zur Ikonisierung führte. Eine Ikonisierung, die Schneider abschließend an oben
erwähnter Plastik erläutert.
Fazit
In der Sprache stellt sich das Buch als wissenschaftliches Fachbuch dar und ist
dementsprechend nicht einfach zugänglich. In der notwendigen Kleinteiligkeit
der Untersuchungen ist der Fokus nicht auf den Kniefall als solchem und seiner
historischen Bedeutung gelegt, sondern auf den Nachweis der narrativen
Wirkgeschichte bis hin zur Entstehung eines identitätsstiftenden Symbols. Somit
wird enttäuscht sein, wer wein weiteres, populär geschriebenes Buch über das
Ereignis als solches erwartet. Für den kulturwissenschaftlich Tätigen und
Interessierten aber eröffnet sich eine fundierte Arbeit im Blick auf den
Prozess der Symbolgenerierung in narrativer Ebene.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 15. März 2011 2011-03-15 12:14:51