Vor kurzer Zeit ist Simons jüngere Schwester nachts auf dem Heimweg ermordet
worden. Simon erhält die Nachricht, dass seine Mutter nach einem
Selbstmordversuch im Krankenhaus liegt. Aus der distanzierten Perspektive des
Medizinstudenten beobachtet der junge Mann die Krankenhausroutine, während er
vor dem Zimmer seiner Mutter wartet. Der Vater ordnet an, dass die Patientin
nach ihrer Entlassung von Simon zu beaufsichtigen ist, der dazu wieder ins
Elternhaus zurückzukehren hätte. Simons Mutter ist noch immer
selbstmordgefährdet; denn nur ihre körperlichen Verletzungen wurden bisher
behandelt. Simon fühlt sich von der Entscheidung seines Vaters überrumpelt und
weiß sich nicht dagegen zu wehren. Dass ihm die Rolle als Stütze für beide
Eltern aufgedrängt wird, erweist sich als Katalysator für erhebliche
Konflikte innerhalb der Restfamilie. Als würden die Häute einer Zwiebel
nacheinander abgezogen, wird deutlich, dass das Leben in dieser Familie schon
vor Sarahs Tod kein Familienleben mehr war. Eifersucht und Schuldgefühle
verhinderten bisher, dass die Angehörigen um die ermorderte Sarah trauern
konnten. Jeder verschließt seine Trauer und die eigenen widersprüchlichen
Gefühle in sich und lässt nur die eigene Art gelten, mit dem Verlust
umzugehen.
"Vom Atmen unter Wasser" ist ein schlanker Text; die entscheidenden
Wendungen finden im Kopf des Lesers statt. Gezeigt wird die Zerstörung einer
Familie als indirektes Opfer eines Verbrechens und die individuelle Art jedes
Familienmitglieds, dem Trauerprozess um die ermordete Schwester auszuweichen.
Das Verdrängen von Gefühlen und die mangelnde Einfühlung füreinander lässt
die Autorin bedrückend deutlich werden. Sehr gut getroffen finde ich den Vater,
als Sozialarbeiter in der klassischen Rolle des hilflosen Helfers, der sich mit
Arbeit betäubt. Im Beruf rettet er regelmäßig Jugendliche vor dem Absturz in
Suff und Sucht, für die Vorgänge in der eigenen Familie scheint der Vater
blind zu sein. Seine leeren Worthülsen ("Liebes") werfen die
drängende Frage auf, was er wirklich empfindet und was er dahinter verbirgt.
Auch die Mutter mit ihren für Außenstehende absurd wirkenden Trauerritualen
finde ich in ihrer Rolle "wer nicht in meiner Situation war, kann mich
nicht verstehen und darum ist jede Bemühung um mich sinnlos" ausgezeichnet
charakterisiert. Mit Elena, Sarahs Freundin, öffnet sich der Blick auf weitere
Personen, die erst am Beginn ihres Trauerprzesses um Sarah stehen. Der Schluss
knüpft eine Verbindung zum Prolog und erinnert an den kleinen Simon als
eifersüchtigen Bruder - völlig alltägliche Gefühle, die in der besonderen
Situation dieser Familie zum unlösbaren Problem werden.
Fazit
Der Roman, zu dem Lisa-Marie Dickreiter zeitgleich ein Drehbuch verfasste, zeigt
in eindringlicher Weise, welche Familienkonflikte Angehörige eines
Verbrechensopfers daran hindern, um die ermordete Schwester zu trauern.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 06. Januar 2011 2011-01-06 11:14:30