Nicht ganz unberechtigt wird der amerikanische Schriftsteller Thomas C. Boyle
als ein politischer Schriftsteller bezeichnet, der so viel Energie in sich
trägt, dass es einfach brennen muss, wie es die amerikanische Kritikerin Lynn
Neary von NPR.org ausdrückte. Das vorliegende Bändchen Fleischeslust mit
insgesamt fünfzehn Geschichten ist der Beton, der diese Meinung zu untermauern
versteht. Fünfzehn Geschichten voller Schicksale, voller Unterhaltung, voller
Spannung und natürlich voller Engagement eines Schreibers, für den die
Szenarien nicht nur Kulisse für eine unterhaltsame Lektüre sind, sondern der
Grund für das Entstehen der Geschichte bilden. In jeder Geschichte spürt man
das tiefe Interesse Boyles, sich mit einem umwelt- und gesellschaftspolitischen
Thema zu befassen, über Ursache und Wirkung nachzudenken, den besten
(schriftstellerischen) Weg zu finden, den Leser über eine unterhaltsame und
spannende Geschichte an das Thema heranzuführen, ihn zum Nachdenken
anzuregen.
So handelt "Großwildjagd" von einem die Savannen Afrikas
nachbildenden Park in Kalifornien, der zu kommerziellen Zwecken für die
Großwildjagd angeboten wird. "Keimende Hoffnung" fantasiert vom alles
erfüllenden Sex auf einem Teppich aus Fröschen und Kröten in der puren Natur.
Wie kann man einer Familie helfen, die in ihrem Müll erstickt, weil sie nichts,
aber auch gar nichts, wegschmeißen können? "Sammlerinnen und Jäger"
lässt darüber nachdenken.
"Ich lernte sie kennen - das heißt, unsere Wege kreuzten sich -, weil mich
ein Freund beauftragt hatte, sie abzuholen... Während ich durch die
Flughafengänge joggte und übernächtigten Sikhs, jovialen Briten und
umsichtigen Geschäftsleute aus Japan und Korea auswich, rasten mir die
klingenden Namen - Solschenizyn, Tschechow, Dostojewski, Tolstoi - wie
Beschwörungsformeln durch den Kopf, bis ich sie plötzlich sah." Mit
solchen Bildern beginnt in "Ohne Held" eine romantische Liebe zwischen
einem Amerikaner und einer Russin, die noch auf eine harte Probe gestellt werden
sollte. Mit der "Ehrenwerten Gesellschaft" begibt sich der Leser nach
Sizilien und erfährt über das Leben mafiöser Familien aus der Sicht ihres
Hausarztes. "Höhere Gewalt" spielt für Willis mit den Hüftgelenken
und seiner morgens ewig nörgelnden Ehefrau in Form eines vorbei rauschenden
Hurricanes eine wichtige Rolle. Der Frage nach dem Sinn von Lehrfilmen gegen
Drogen wird in "Zurück ins Eozän" nachgegangen. Die Titelgeschichte
"Fleischeslust" erzählt von einem jungen Mann, der sich in eine
extremgrüne Veganerin verliebt, sich ihrer Gruppe anschließt und versucht,
sich ihr anzupassen und nach ihren Vorstellungen zu leben. Wird er scheitern?
Kann er für immer auf fleischliche Nahrung verzichten? "Die 100 Gesichter
des Todes, Folge IV" scheint darauf hinzuweisen, dass auf dem Nachttisch
des Autors Berge von Kriminalromanen liegen müssen, damit man so viele
Todesarten aneinanderreihen kann. Jedoch war eine Videoserie vor den Zeiten des
Internets der tatsächliche Auslöser für diese Geschichte. Obwohl die
Mannschaft mit "56:0" gerade verloren hat, will sich Ray Arthur nicht
wie seine Sportkameraden verkriechen und motiviert sie zum nächsten
Footballspiel. Wird die Niederlagenserie durchbrochen? Eher als philosophische
Abhandlung liest sich "Das Ende der Nahrungskette": Nachdenken über
die Notwendigkeit jedes einzelnen Lebewesens auf der Erde. "Bird the
Third" handelt von der Eroberung des Südpols durch Amundsen und Scott aus
der Sicht eines Demenzkranken, der sich verlaufen hat und kaum merkt, dass er
ausgeraubt wird. Eine überaus tragische, dennoch wunderschöne Geschichte.
"Beat" handelt vom Leben und Geschehen in der Generation Ende der
Fünfzigerjahre in Amerika. Weihnachten feiern bei seinem Idol. Doch ist dessen
Mutter darüber begeistert? In einer von Weißen dominierten, amerikanischen
Kleinstadt erinnert sich der Ich-Erzähler an eine schwarz-asiatische
Schulkameradin, deren Familie aus dem Ort vertrieben wurde. Auslöser für diese
Erinnerung ist "der Nebelmann", der zweimal die Woche mit einem Auto
durch die Siedlung rauscht und so viel Nebel hinter sich lässt, dass kaum die
Bäume auf der anderen Straßenseite erkennbar sind. "Auf dem Dach der
Welt" befindet sich die Feuermelderin in ihrem Feuerturm und schwankt
zwischen wütend sein, Angst und Interesse über und für den Mann, der sie hier
in der Einsamkeit belästigt.
Fazit
Alles in allem ein Büchlein mit vielen kurzen, aber voluminösen Geschichten,
die sich schnell lesen lassen und immer mal zwischendurch passen. Alle sind
unterhaltsam und könnten so für sich stehen bleiben. Der Leser kann aber auch
darüber nachdenken und sie in sein ökologisches und gesellschaftliches
Weltbild einfließen lassen.
Vorgeschlagen von Detlef Knut
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veröffentlicht am 21. Dezember 2010 2010-12-21 20:01:22