Seit dreißig Jahren ist Murad Çelik, Ex-Kommissar der Istanbuler Polizei,
nicht in Deutschland gewesen. Überraschenderweise erhält einen Anruf aus dem
Land, in dem er seine Kindheit und frühe Jugend verbracht hat. Ein gewisser
Klaus-Peter Darius möchte mit seiner Mutter sprechen - diese liegt jedoch seit
fünf Jahren im Koma.
Das Telefonat löst etwas in Murad Çelik aus. "Er hatte nichts mehr, was
ihn mit der Zeit damals in Deutschland verband. Keinen Gegenstand, kein Foto.
Nur seine Erinnerungen und die Sprache. Çelik las deutsche Zeitungen, sah
gelegentlich deutsches Fernsehen.... Er merkte, dass die Worte tief verankert
waren."
Aber nicht nur die deutsche Sprache ist im Kopf des 45-jährigen Türken tief
verankert; das kurze Gespräch mit Klaus-Peter Darius (genannt KPD) weckt sein
Bedürfnis, den eigenen Spuren zu folgen. Im Alter von fünfzehn Jahren war
seine Mutter mit ihm bei Nacht und Nebel aus Deutschland abgereist. Was waren
die Gründe für diese überstürzte Flucht in die Türkei? Stand sie im
Zusammenhang mit den politischen Aktivitäten seiner Eltern? War Darius nicht
Mitglied der RAF gewesen?
KPD kann Murad Çelik diese Fragen nicht mehr beantworten. Als Çelik nach
Deutschland reist und in dessen Wohnung eintrifft, findet er eine Leiche. Und
Klaus-Peter Darius bleibt nicht der einzige Tote.
Mit Hilfe der jungen Psychologin Ines Pelzer, die angeblich KPD’s Tochter und
ebenso wie Murad Çelik bemüht ist, diverse Leerstellen aus ihren Kindertagen
zu schließen, macht er sich auf die Suche nach dem Täter. Einen Anhaltspunkt
bietet zunächst nur ein Gruppenfoto aus längst vergangenen Zeiten...
Gök Senin und Ulrich Noller haben einen klugen Roman geschrieben. Das gilt
nicht nur für die Charaktere und hier vor allem für den hochinteressant
gestalteten eigenbrötlerischen Çelik und die von Pelzer psychologisch betreute
Gruppe von Savants, die bei der Aufklärung behilflich sind, sondern auch für
den Handlungsaufbau. Die Autoren schlüpfen in verschiedene Perspektiven: Sie
erzählen aus der Sicht des wortkargen Protagonisten Çelik, aus der von Ines
Pelzer - und auch aus der des Mörders. Auf 220 fesselnden Seiten begleitet der
Leser die Protagonisten und fiebert der Auflösung entgegen. Er fühlt sich
zurückversetzt in die 1970er Jahre und die durch die RAF politisch aufgeheizte
BRD, er erfährt etwas über die linken Oppositionellen in der Türkei und
vieles über Autisten mit ganz spezifischen Begabungen...
Hervorgegangen ist das im Eichborn-Verlag publizierte Krimidebüt der beiden
Autoren aus dem Hörspielprojekt SKI, Serie Krimi International. Dieses Projekt
haben Ulrich Noller und Gök Senin für den WDR konzipiert. Sie erfanden Çelik
& Pelzer, den ersten Teil von SKI, der dann von anderen Krimiautoren wie zum
Beispiel Pieke Biermann in sechs Folgen weiterentwickelt wurde.
Ungewöhnlicherweise entstand zuerst das Hörspiel und anschließend das Buch.
Auch das Hörbuch kann wärmstens empfohlen werden. Nicht nur die Geschichte
selbst, sondern auch die Vertonung durch die hervorragenden Sprecher Matthias
Kiel und Lilia Lehner sowie die wunderbare musikalische Begleitung durch das
"Orchester der Schatten" machen es zu einem Genuss.
Vorgeschlagen von Heide John
[Profil]
veröffentlicht am 29. November 2010 2010-11-29 16:02:47