Scotts Bay, Nova Scotia 1916. Die Rares hatten immer nur Söhne gehabt, Dora
Rare wuchs als erstes und einziges Mädchen mit sechs Brüdern auf. An der Bay
of Fundy in der östlichsten kanadischen Provinz arbeiteten die Männer je nach
Jahreszeit als Fischer, Bauer oder Schiffbauer. Jeder war gewöhnt mit
anzupacken, die Häuser wurden in Gemeinschaftsarbeit selbst gebaut, dann
regelmäßig zu Beginn des Winters gegen Sturm und Schnee verrammelt und wie
eine Pflanze angehäufelt. Zusätzlich zur täglichen Plackerei trugen die
Frauen die Sorge, ob ihre Männer gesund vom Fischfang zurückkehren und ob sie
selbst die nächste Entbindung überleben würden. Alle Kinder waren mithilfe
der Hebamme Marie Babineau zur Welt gebracht worden. Klar wurde über Miss B.
gemunkelt - und dann ließen die Leute sich doch wieder von ihr aus dem Tee
lesen oder an der Form des schwangeren Bauches voraussagen, ob das Kind ein
Junge oder ein Mädchen sein würde.
Ein so neugieriges, kritisches Geschöpf wie Dora hält Miss B. für eine
geeignete Nachfolgerin als Hebamme. Noch dazu hat Dora einfach die Gabe als
Heilerin. Nur die Männer verlassen den kleinen Ort zum Fischen, die Frauen sind
an Haus und Kinder gebunden. Doras Mutter, die immerhin schon einmal in der
Hauptstadt Halifax war, bestärkt ihre Tochter darin, dass Dora einmal auf
eigenen Füßen stehen soll. Bedeutende Veränderungen kündigen sich an, als
ein Arzt eine Enbindungsklinik eröffnet. Mit einer Versicherungspolice über
25$ könne jede Frau bei ihm sicher entbinden, verkündet Dr. Thomas. Dora
zweifelt an dem ehrgeizigen Plan; sie fragt sich, wer den hohen Preis überhaupt
aufbringen kann wie sich Dr. Thomas die Behandlung von Notfällen wohl
vorgestellt hat. Dass ein richtiger Mann rauhbeinig und rücksichtslos ist und
die Frauen von Scotts Bay immer zusammenhalten, erfährt Dora kurz nach ihrer
Eheschließung. Im Dorf ist sie schon bald in den Ruf einer Hexe geraten, u. a.
weil ihre Vorstellung von Rücksicht auf eine Wöchnerin häufig mit den
Ansprüchen von deren Ehemann kollidiert.
Fazit
Doras Tätigkeit als Dorfhebamme und Helferin in allen Notlagen schildert Ami
McKay auf liebenswürdige Weise. Ein großes Plus des Romans sind die
hinreißenden Frauen, die sich nur beim Sockenstricken für die Armee als
"Schwestern der Gelegentlichen Strickerinnen" ungestört treffen
können. Auch die authentische Schilderung des Hebammen-Wissens, das Dora ohne
formale Ausbildung durch Erfahrung und aus Miss B.s Aufzeichnungen sammelt, hat
mich stark gefesselt. Handlungsstränge um Doras Ehemann und der historische
Hintergrund des Ersten Weltkriegs (einschließlich der Explosion im Hafen von
Halifax 1917 und Doras Zusammentreffen mit der Sufragetten-Bewegung in Boston)
stehen leider kaum verknüpft neben der Handlung um Dora. Was für ein
verrückter Roman!
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 23. November 2010 2010-11-23 10:40:39