Der Amerikaner Lloyd beschreibt das Paris, das er aus seinem Fenster sieht, im
Stil großer Reportagen der 60er Jahre. Als freier Journalist hat der alte
Haudegen seine Texte jahrzehntelang an Zeitungsredaktionen verkauft. Die
Rechnung des 70-Jährigen ist einfach: wenn er in dieser Woche keine Story
verkauft, muss er seine Wohnung kündigen und bei einem seiner Kinder zum
Bittsteller werden.
Tom Rachman erzählt seinen Roman aus dem Zeitungsmilieu in Episoden und aus
einem Dutzend Perspektiven. Die Wege aller seiner Figuren kreuzten sich vor
Jahrzehnten oder tun es gerade in der Gegenwart. Sie waren Kollegen in der
Redaktion einer englischsprachigen Zeitung in Rom, Konkurrenten, Liebhaber,
Familienangehörige. Cyrus Ott hatte 1954 als sein italienisches Abenteuer die
Zeitung gegründet, die damals bis nach Australien versendet wurde. Unter
Chefredakteur Marsh wurde im selben Haus geschrieben und gedruckt; das Poltern
der riesigen Papierrolle gehörte zur täglichen Geräuschkulisse. Nach Cyrus
Tod zahlt Bruder Charles weiter für die Zeitung, Cyrus Sohn Boyd übernimmt die
Geschäftsführung, obwohl er vom Metier keine Ahnung hat. Eine Zeitlang
genießt die Zeitung international einen guten Ruf, erwirtschaftet Gewinne, wird
sogar zum Karrieresprungbrett für junge Kollegen.
Ein halbes Jahrhundert später ist inzwischen die dritte Generation von Otts am
Ruder. Der Mutter-Konzern in den USA steckt in einer Krise; die Zeitung ist ein
Verlustgeschäft, sie kann kaum junge Leser gewinnen, die wenigen Abonnenten
werden immer älter. Als Informationsquelle aus der Heimat für Menschen auf den
Außenposten unserer Zivilisation hat das Blatt längst ausgedient. Mitte der
90er sinken weltweit die Leserzahlen, dem Unternehmen fehlt eine kompetente
Führungspersönlichkeit. Oliver Otts Job wäre es nun, eine Marktanalyse in
Auftrag zu geben und Ziele für die Zukunft des Blatts festzulegen. Ein
Faktotum, wie damals Arthur Gopal (zuständig für die Rätselseite und
Nachrufe auf Prominente), den Korrektor Herman Cohen mit seinem hauseigenen
Stilführer oder gar einen Korrespondenten in Kairo kann sich das Blatt mit
Sicherheit nicht mehr leisten. Doch Oliver, der außer Kunstgeschichte nichts
kann, interessiert sich nicht für die Zeitung seiner Familie.
Tom Rachmann, der als Auslandsskorrespondent für Associated Press arbeitete,
hat aus der Sicht des Journalisten eine ungewöhnliche Studie des
Zeitungsmilieus verfasst. Er entlarvt Lebenslügen und chaotisches Privatleben
seiner Figuren, die sich hauptsächlich innerhalb einer amerikanischen Enklave
in Rom aufhalten. Nach jahrelangem Leben im Ausland stellt mancher resiginiert
fest, dass Italiener am liebsten unter sich bleiben und Italien keinen
Traumpartner bereitgehalten hat. Wer in Rom scheitert, muss in ein inzwischen
fremd gewordenes Amerika zurückkehren. Rachmann hat einen Blick für Menschen,
die offenbar nur auf der Welt sind, um andere zu nerven. Seine schwierigen
Charaktere, die man sich nur schwer im Alltagsgeschäft einer Tageszeitung
vorstellen kann, stellt der Autor mit Anteilnahme und subtilem Humor dar.
Fazit
Die für manchen Leser ungewohnte Aneinanderreihung von Episoden aus fünf
Jahrzehnten vermittelt ein treffendes Bild des Strukturwandels im Bereich der
Printmedien. Rachman zeigt auf unterhaltsame Art, dass eine Zeitung weit mehr
ist als ein Bilanzposten, Zeitungmachen mehr als ein Job - es ist eine
Leidenschaft.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 10. Oktober 2010 2010-10-10 11:59:59