Wunschloses Unglück
Fast verwandelt er sich wirklich, so intensiv und fühlbar werden seine Zähne
länger, imaginäre Fühler drängen aus der Stirn. Vor allem, wenn er dem
weiblichen in einer attraktiven Form über den Weg läuft. Am liebsten würde er
klein und noch kleiner unter die Fußsohlen kriechen, um die Begehrte von unten
zu bewundern.
Durchtrieben und bedürftig, das ist sein Charakter. Momentan ist sein
anbetender Blick auf Schoreh gefallen, aber, wie immer, steht ihm seine
Unbeholfenheit dem Weiblichen gegenüber im Wege.
Zudem stellt sich bereits auf den ersten, wunderbar lakonisch nebenbei im Buch
geschildert, Seiten heraus, dass der Ich Erzähler ein notorischer Dieb ist, in
früheren Zeiten darunter litt, dass in diesen nördlichen Breiten der
zivilisierten Welt kaum ein Vorwand geliefert wird, eine ordentliche
körperliche Auseinandersetzung zur allgemeinen Entspannung auf den Weg zu
bringen und überhaupt wird klar, dass die emotional dichte innere Veränderung
zur Kakerlake hin nicht nur in Bezug auf den Umgang mit Frauen im Raum steht,
Die gesamte Lebensform des namenlos bleibenden Ich-Erzählers macht es
überlebensnotwendig, unscheinbar durch diese Welt zu gleiten. Und dabei ein
Fremder zu sein und zu bleiben, auch sich selbst gegenüber.
Der aktuell in aller Munde gewendete Begriff "Migrationshintergrund"
liegt beim Erzähler nämlich vor. Da muss er vorsichtig sein, fast unsichtbar,
nicht anecken. Nur um dann von den herabfallenden Brosamen vom Tisch der reichen
Gesellschaft ein wenig mit leben zu dürfen. Er ist einer dieser unsichtbaren,
dienstbaren Geister, der Glück kaum kennt und stillschweigend nur die Aufgabe
hat, die Dinge der Gesellschaft im Hintergrund am Laufen zu halten. Aber wehe,
es stellt sich heraus, dass er eigentlich Ungeziefer ist. Da rückt auch seine
Therapeutin mit ihrem Stuhl ein Stück zurück. Auch hier Befremden.
Bei dieser soll der Erzähler seinen Suizidversuch aufarbeiten und beginnt
widerstrebend, seine Geschichte zu erzählen. Aber ist es wirklich seine wahre
Geschichte? Oder windet er sich wieder einmal unter irgendwelchen Fußsohlen
hindurch, um unentdeckt zu bleiben?
Kleinkrimineller, Dieb, Einbrecher, aber auch das ernährt ihn kaum und so geht
er den Weg des klassischen Tellerwäschers in einem Restaurant und wird dort mit
Schorehs Leidensgeschichte konfrontiert. Eine Konfrontation die im letzten
Drittel des Buches mehr und mehr eskaliert, eigentlich eher implodiert, denn was
macht einer, der sich in der Tiefe für eine halbe Kakerlake hält, wenn er
wütend wird?
Rawi Hage schreibt in einer mit hinein nehmenden Sprache mit großem Wortschatz
und einer immer auf den Punkt treffenden, bildhaften Ausdrucksweise. Allein
schon die farbigen Ausleuchtungen des inneren Erlebens seines Protagonisten,
wenn er "wie ein Wolf" der begehrten Frau hinter her streunt und sich
an deren Toilettengang ergötzt, ist in einer Art dargestellt, die das innere
Erleben der Figur unmittelbar erfahrbar macht.
Wie sich zudem der Erzähler (und in seiner Person sicherlich vielfach andere
ins einer Lage) als Immigrant versucht, durch zu lavieren, nicht beachtet wird
und wenn, dann oft mit einem Blick zunächst, als wenn man Ungeziefer
betrachtet, wie seine ständigen Versuche, zumindest indirekt auch in erotischer
Weise voranzukommen kläglich scheitern und darin ein Bild wiederum verborgen
liegt, wie es ihm letztlich nicht gelingt, an die attraktive Lebensform der
westlichen Gesellschaft Anschluss zu finden, dass alles beschreibt Rawi Hage bis
zum bitteren, gewaltsamen Ende auf der letzten Seit mit großer Sprachkultur,
präziser Beobachtungsgabe und der schriftstellerischen Möglichkeit, all dies
auf den Punkt dem Leser mit zu teilen.
Fazit
Seite für Seite versteht man mehr, was ein Zustand "wunschlosen
Unglücks" ist und, neben der tragenden Geschichte vom begehrenden und sich
letztlich rächenden Protagonisten, erfährt ein gutes stückweit aus der
Innensicht heraus, wie wenig integrativ unsere Gesellschaftsform letztlich ist.
Wunderbar sprachlich mit teils schwärzestem Humor, geschrieben zudem folgt der
Lektüre das eigene Erschrecken über dieses Fremdsein.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 18. September 2010 2010-09-18 16:36:49