Das hier zu besprechende Buch über den Wirtschaftswissenschaftler John Maynard
Keynes (1883-1946) von Robert Skidelsky versucht, die aktuelle Wirtschafts- und
Finanzkrise mit Hilfe der Lehre von John Maynard Keynes zu erklären. Skidelsky
ist ausgewiesener Experte über Leben, Werk und Wirkung des bekannten Ökonomen
und hat bereits in den 1980-ger Jahren eine dreibändige Biographie über sein
Leben vorgelegt. Im Zuge der aktuellen Krise hat Gerald Braunberger von der
Renaissance des Krisenökonomen" gesprochen. Ist das Werk von Keynes
geeignet, die derzeitige Krise zu bewältigen und ihre Ursachen verständlich zu
machen?
Die Antwort von Skidelsky lautet: ja, dies ist sie. Keynes gilt als Begründer
der sogenannten Nachfragetheorie. Er stellte in den 1930-ger Jahren im Zuge der
damaligen Weltwirtschaftskrise die These auf, Ursache der Krise seien nicht
mangelnde Angebote, sondern fehlende Kaufkraft und Investitionen. Der Staat
müsse - notfalls durch Inkaufnahme von begrenzter Verschuldung, die in
guten" Zeiten wieder abzubauen sei - Nachfrage schaffen und Investitionen
tätigen.
Skidelsky weist nun nach, dass dies zwar in der Tat ein wichtiger Gedanke von
Keynes gewesen sei und zur Lösung der damaligen Krise beigetragen habe. Dies
sei aber niemals der Kernpunkt der Keynschen Theorie gewesen. Wichtigster Aspekt
seiner Theorie der sogenannten unsicheren Erwartungen" gewesen. Die
subjektive Einschätzung der Zukunft durch alle Wirtschaftsteilnehmer präge das
wirtschaftliche Leben. Nur, wenn Investoren ihre Investititionen für
gewinnbringend halten, werden sie investieren. Keynes zufolge ist es
fundamentale Unsicherheit", die Volkswirtschaften instabil mache und eine
rasche Erholung von den Erschütterungen" vermeide. Dieser Denkansatz steht
in diamentralem Gegensatz zur Theorie der rationalen Erwartungen", die von
der sogenannten klassischen Theorie vertreten wurde - aber zum Verdruss von
Skidelsky auch von Neo-Keynesianern übernommen worden sei. Nur wer die
Psychologie der Marktteilnehmer in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit rücke und
auch unerwartetetes", irrationales Verhalten aller am Wirtschaftsprozess
Beteiligten berücksichtige, erkenne, dass die Instabilität des Finanzsystems
im Kern durch fundamentale Unsicherheit" der Volkswirtschaften geprägt
worden sei. Dies sei die wahre Ursache der Instabilität des Finanzsystems.
Insofern sei Keynes Theorie geeignet, die Ursachen der derzeitigen
Krise zu erklären. Keynes biete - so Skidelsky - damit eine hilfreiche
Anleitung zum Verständnis der tiefen Rezession, in der wir uns derzeit
befänden und zeige Wege auf, wie wir aus der Wirtschaftskrise wieder
herausfinden könnten.
Dies sind die wichtigsten Thesen von Skidelsky. Das Buch ist durchaus
interessant zu lesen, weil es mit einigen Vorurteilen über Keynes aufräumt,
etwa der, Keynes sei ein Befürworter von Haushaltsdefiziten oder Inflation.
Keynes war keineswegs der Steuer- und Ausgabenfanatiker, als der er oftmals
hingestellt werde. Ebenso wenig sei Keynes der Meinung gewesen, Arbeitslosigkeit
sei ausnahmslos die Folge einer zu geringen Gesamtnachfrage, sondern auch auf zu
unflexible Lohn- und Preisstrukturen zurückzuführen. Keynes war aber - im
Gegensatz zu den klassischen Ökonomen" in der Tradition von Adam Smith
davon überzeugt, dass in einem sich selbst überlassenen Marktsystem tiefe
Einbrüche immer möglich seien und dem Staat daher auf Dauer die Rolle zukomme,
solche Einbrüche zu verhindern.
Was mich an dem Werk jedoch stört, ist, dass Keynes Lehre zu unkritisch
betrachtet wird. Einwände, ob Keynes Denkansatz zur Lösung der Bankenkrise
taugt, werden m.E. nicht ausreichend berücksichtigt. So schrieb der
Finanzjournalist Lucas Zeise in seinem hervorragenden Buch: Ende der Party: Die
Explosion im Finanzsektor und die Krise der Weltwirtschaft", der
Keynesianismus sei nicht geeignet, die Ursachen der Krise zu beheben, weil der
Staat in der Lage sei, antizyklisch zu handeln und Nachfrage zu schaffen, nicht
jedoch der einzelne Konsument, der über zu wenig Kaufkraft verfüge.
Konsumenten könnten nicht antizyklisch" reagieren: Wenn die Preise sinken
und die Konjunktur kippt, können sie keinesfalls mehr Schulden aufnehmen. Bei
sinkenden Immobilienpreisen hilft es auch nicht, das Wohnhaus zu verkaufen, um
sich zu entschulden" (Lucas Zeise). Insofern bleiben Zweifel, ob Keynes
Vorschläge wirklich geeignet sind, die Ursachen der Krise zu benennen und sie
damit wirkungsvoll zu bekämpfen. Gerald Braunberger und Max Otte haben in ihren
Werken auch zu recht die Frage erörtert, ob Keynes oder der amerikanische
Öknonom Hyman Minsky, dessen Krisenzyklen-Theorie den Verlauf der derzeitigen
Krise exakt beschrieben hat, nicht der eigentliche Krisenökonom" ist.
Minskys Krisentheorie sagte Spekulationsblasen an Vermögensmärkten wie Aktien
als Folge zu großzügiger Kreditvergabe voraus. In langen Zeiten
wirtschaftlichen Wachtums verlören Banken, Unternehmen und Konsumenten das
Gefühl für Risiko und begännen, von der Gier nach immer höheren Gewinnen
getrieben, sich in gewagte Finanzierungen zu stürzen. Finanzierungsprozesse in
Marktwirtschaften führten dazu, dass sich robuste Finanzierungsstrukturen
während des Booms in risikoreiche und störungsanfällige
Finanzierungsstrukturen verwandelten. Dabei würden Banken eine umso riskantere
Kreditpolitik betreiben, je mehr sie darauf bauen könnten, in einer
anschließenden Krise vom Staat - sei es durch die Notenbank oder die Regierung
oder beide - gerettet zu werden.
Wie man auch immer die Theorie von Minsky beurteilen mag: der Name dieses
bedeutenden Ökonomen taucht in Skidelskys Werk überhaupt nicht auf. Dabei ist
seine Theorie - wie oben gezeigt wurde - sehr wohl in der Lage, die aktuelle
Krise zu erklären.
Dennoch lohnt sich die Lektüre des Werkes von Keynes und zwar aus folgenden
Gründen:
1. Keynes war ein Pragmatiker, der die Welt so sehen wollte, wie sie war. Er war
kein Ideologe und bereit, Neues aufzunehmen und seine Ansichten gegebenenfalls
zu ändern.
2. Er hat das Bewußtsein geschärft, dass Ökonomik eine Sozialwissenschaft mit
dem Zweck ist, das Leben der Menschen zu verbessern. Für ihn als Moralist stand
im Hintergrund stets die Frage nach dem Sinn und Zweck der Wirtschaft und
Keynes lehnte praxisferne" Theorien in Elfenbeintürmen vehement
ab.Mathematisch konzipierte Modelle sollten einfach und realitätsnah bleiben
und kein Selbstzweck sein.
3. Eine Marktwirtschaft besitzt eine beachtliche Fähigkeit zur
Selbstregeneration. In schweren Krisen kann sich der Staat jedoch gezwungen
sehen, Vertrauen zu schaffen. Expansive Geld- und Finanzpolitik kann in diesem
Fall ein sinnvolles Instrument sein, Krisen zu lösen. Sie taugt aber nicht als
Allheilmittel" für jede Krisensituation.
4. Die Lehre von Keynes enthält mehr als die Analyse von Märkten mit
unflexiblen Löhnen und Preisen. Die Bedeutung der unsicheren Erwartungen"
über die zukünftige Wirtschaftentwicklung darf nicht unterschätzt werden und
steht im Mittelpunkt dieses Buches.
5. Der Mensch ist keine Maschine und auch kein durchweg rational handelndes und
denkendes Wesen. Die Ökonomik bedarf einer realistischen Vorstellung vom
Menschen. Leben ist für Keynes mehr" als Wirtschaft, etwa, wenn es um die
Bewahrung der Umwelt geht, für die sich Keynes schon in den 1930-ger Jahren
eingesetzt hat. Ökonomie und Ökologie sind für ihn kein Gegensatz. Insofern
war Keynes bereits damals aktuell."
Berücksichtigt man diese Aspekte, die ich teils aus diesem Werk, teils aus dem
Buch von Gerald Braunberger: Keynes für jedermann: Die Renaissance des
Krisenökonomen" entnommen habe, so lohnt sich auch heute noch die
Beschäftigung mit diesem Wirtschaftswissenschaftler. Dafür ist das Buch dieses
profunden Kenners von Keynes Leben, Werk und Wirkung trotz mancher Schwächen
sehr geeignet. Es sollten meiner Meinung nach jedoch zusätzliche Bücher über
Keynes und die Wirtschaftskrise herangezogen werden, um deren Ursachen und
Verlauf besser zu verstehen und über die Möglichkeiten, die Krise zu
bewältigen, besser informiert zu sein. Dann ist es auch möglich, die Grenzen -
auch Schwachpunkte - der Theorie von John Maynard Keynes, der ein bedeutender
Ökonom war und auch in Zukunft bleiben wird, besser einzuschätzen.
Fazit
Insgesamt trotz gewisser Schwächen lesenswert
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 23. Juli 2010 2010-07-23 12:49:09