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Ruth Berger: Der Seelenarzt

Der Seelenarzt

von Ruth Berger
Verlag: Kindler Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: historischer Roman
ISBN-13 978-3-463-40568-1

Preis: 2,80 Euro bei Amazon.de [Stand: 21. November 2024]
Pauline Franck, die Patientin, die dem Arzt Dr. Heinrich Hoffmann 1853 vorgestellt wird, hört Stimmen und ist überzeugt, ihr Körper wäre vertauscht worden. Hoffmann, der zusätzlich zu seiner ärztlichen Praxis die Frankfurter Irrenanstalt leitet, versucht zunächst, Pauline die Angst auszureden, dass andere in ihren Kopf sehen können. Seine Diagnose: Pauline ist an Melancholie mit "fixem Wahn" erkrankt. Zu Hoffmanns Zeiten (er lebte von 1809 bis 1894) tappten Mediziner in der Behandlung psychischer Erkrankungen noch weitgehend im Dunkeln. Außer der Aufnahme in die "Anstalt", kalten Güssen und der Fixierung in der Zwangsjacke haben die Kranken kaum etwas zu erwarten. Hoffmann glaubt bereits an die Beteiligung der Seele an der Krankheit. Er erwartet jedoch von seinen Patienten, dass sie einsehen, etwas falsch gemacht zu haben und bewusst selbst einen Genesungsprozess einleiten. Seine eigene Rolle dabei sieht Hoffmann pessimistisch; er bezweifelt, dass es seinen Patienten hilft, mit ihm über ihre Sorgen zu reden. Jede freie Minute widmet Hoffmann dem Sezieren in der Psychiatrie verstorbener Patienten und der Erforschung des "senilen Blödsinns", der Demenz.

Eine Rückblende versetzt uns vierzig Jahre zurück in die Familie Philipp Hoffmanns, Heinrich Hoffmanns Vater. Frankfurt steht damals unter französischer Verwaltung. Als Sohn Heinrich geboren wird, glaubt kaum jemand, dass das schwächliche Kind überleben wird. Sein Vater hält den körperlich kleinen Jungen für zurückgeblieben und glaubt Heinrich habe seine Eigenheiten aus der Familie seiner Mutter geerbt. Das temperamentvolle, ungeduldige Kind wird zum Zappel-Heini erklärt. Dass ein Kind wie Heinrich in einer Klasse mit 80 Schülern in der Schule nichts lernt, wundert aus heutiger Sicht nicht. Als gesellige, leichtlebige Natur gelingt es Heinrich trotz ungünstiger Voraussetzungen, sein Studium abzuschließen. Heinrichs Schulfreund Gustav Körner wird später als Rädelsführer der Frankfurter Revolution bekannt werden.

Noch weiß Hoffmann nichts von der Verknüpfung zwischen Paulines Schicksal und dem seiner eigenen Familie. Während er geduldig auf die Patientin eingeht, erfahren die Leser in Rückblenden, dass Paulines Vater noch vor ihrer Geburt bei der Arbeit auf einer Baustelle verunglückte. Paulines Bruder Theodor wird nach dem Unfalltod des Vaters von der Familie des Textilhändlers August Passavant adoptiert; das kleine Mädchen kommt ins Waisenhaus und wird seine Mutter jahrelang nicht wieder sehen. Direkt aus dem Waisenhaus tritt Pauline eine Stelle als Dienstmädchen bei der Zigarren-Dynastie Dürlemann an. Die Zeit, als Pauline den kleinen Fritz Dürlemann betreut, der sehr an ihr hängt, wird die glücklichste in ihrem Leben sein. Das kurze Glück endet, als Babette Dürlemann von ihrem Mann für seelenkrank erklärt und allein aufgrund einer einfachen ärztlichen Bescheinigung in ein Sanatorium abgeschoben wird. Wer einmal drin ist, muss auch nicht richtig im Kopf sein, ist damals die verbreitete Meinung. Das symbiotische Verhältnis zwischen dem kleinen Fritz und seinem Kindermädchen wird vom Vater abrupt beendet. Pauline kann sich glücklich schätzen, dass sie problemlos Arbeit in einem Textilgeschäft findet.

Für einen so unsteten Menschen, der selbst glaubt, an angeborener Zerstreutheit zu leiden, hat Hoffmann sich ein gewaltiges Arbeitspensum aufgeladen. Nicht zu glauben, dass eben dieser Dr. Hoffmann, als er sich über das mangelnde Angebot an Bilder-Büchern für kleine Kinder ärgert, kurz entschlossen selbst ein Buch für seinen Sohn Carl zeichnet. Das schon damals umstrittene Buch findet nicht nur einen Verleger, es ist bis heute bekannt: Der Struwwelpeter. Der Mann, der als Kind den Anforderungen seines Vaters an einen Sohn nicht genügen konnte, stellt in diesem Buch mit dem Zappel-Philip als erster ein hyperaktives Kind dar. (Die Dürlemanns und die Passavants sind von Berger erschaffene Romanfiguren, die Krankengeschichten Paulines und des Patienten Christian Völker hat die Autorin Hoffmanns Psychiatrischen Schriften entnommen.)

Probleme hatte ich mit dem lässigen Ton der neutralen Erzählerstimme, die mit Modeausdrücken unseres Jahrzehnts eine vergangene Epoche beschreibt, in der der gesellschaftliche Stand jedes Menschen noch exakt definiert war. Zu Hoffmanns Persönlichkeit und seiner für ihre Zeit kecken Frau Therese jedoch passen flapsige Formulierungen der Erzählerin.

"Wie ich ihn kenne, denke ich, dass Heinrich Hoffmann mir nicht allzu sehr verübeln wird, seine Person, Lebenserinnerungen und übrige Schriften hier en detail verwertet [...] zu haben." Mit dieser augenzwinkernden Bemerkung schließt Ruth Berger den Kreis und ihre Leser verzeihen ihr einige lässig formulierte Szenen in diesem sonst ernsten Stoff.

Sehr hilfreich fand ich die Übersichtliche Auflistung aller Personen auf einem Extrablatt - diesen kleinen Luxus würde ich mir für jeden Familienroman wünschen.
Fazit
"Der Seelarzt" liest sich spannend wie eine Familiensaga, berührt mit der einfühlsamen Darstellung des kleinen Heinrich und der psychisch erkrankten Pauline und gibt nicht zuletzt Einblick in das Verhältnis zwischen Herrschaft und Dienstboten im 19. Jahrhundert, das Ruth Berger sehr glaubwürdig schildert. Hoffmanns geduldige Suche nach der Ursache von Paulines Wahnvorstellungen zeigt anschaulich das begrenzte Wissen über psychische Erkrankungen zur damaligen Zeit.
8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne

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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 17. Juli 2010

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