Pauline Franck, die Patientin, die dem Arzt Dr. Heinrich Hoffmann 1853
vorgestellt wird, hört Stimmen und ist überzeugt, ihr Körper wäre vertauscht
worden. Hoffmann, der zusätzlich zu seiner ärztlichen Praxis die Frankfurter
Irrenanstalt leitet, versucht zunächst, Pauline die Angst auszureden, dass
andere in ihren Kopf sehen können. Seine Diagnose: Pauline ist an Melancholie
mit "fixem Wahn" erkrankt. Zu Hoffmanns Zeiten (er lebte von 1809 bis
1894) tappten Mediziner in der Behandlung psychischer Erkrankungen noch
weitgehend im Dunkeln. Außer der Aufnahme in die "Anstalt", kalten
Güssen und der Fixierung in der Zwangsjacke haben die Kranken kaum etwas zu
erwarten. Hoffmann glaubt bereits an die Beteiligung der Seele an der Krankheit.
Er erwartet jedoch von seinen Patienten, dass sie einsehen, etwas falsch gemacht
zu haben und bewusst selbst einen Genesungsprozess einleiten. Seine eigene Rolle
dabei sieht Hoffmann pessimistisch; er bezweifelt, dass es seinen Patienten
hilft, mit ihm über ihre Sorgen zu reden. Jede freie Minute widmet Hoffmann dem
Sezieren in der Psychiatrie verstorbener Patienten und der Erforschung des
"senilen Blödsinns", der Demenz.
Eine Rückblende versetzt uns vierzig Jahre zurück in die Familie Philipp
Hoffmanns, Heinrich Hoffmanns Vater. Frankfurt steht damals unter
französischer Verwaltung. Als Sohn Heinrich geboren wird, glaubt kaum jemand,
dass das schwächliche Kind überleben wird. Sein Vater hält den körperlich
kleinen Jungen für zurückgeblieben und glaubt Heinrich habe seine Eigenheiten
aus der Familie seiner Mutter geerbt. Das temperamentvolle, ungeduldige Kind
wird zum Zappel-Heini erklärt. Dass ein Kind wie Heinrich in einer Klasse mit
80 Schülern in der Schule nichts lernt, wundert aus heutiger Sicht nicht. Als
gesellige, leichtlebige Natur gelingt es Heinrich trotz ungünstiger
Voraussetzungen, sein Studium abzuschließen. Heinrichs Schulfreund Gustav
Körner wird später als Rädelsführer der Frankfurter Revolution bekannt
werden.
Noch weiß Hoffmann nichts von der Verknüpfung zwischen Paulines Schicksal und
dem seiner eigenen Familie. Während er geduldig auf die Patientin eingeht,
erfahren die Leser in Rückblenden, dass Paulines Vater noch vor ihrer Geburt
bei der Arbeit auf einer Baustelle verunglückte. Paulines Bruder Theodor wird
nach dem Unfalltod des Vaters von der Familie des Textilhändlers August
Passavant adoptiert; das kleine Mädchen kommt ins Waisenhaus und wird seine
Mutter jahrelang nicht wieder sehen. Direkt aus dem Waisenhaus tritt Pauline
eine Stelle als Dienstmädchen bei der Zigarren-Dynastie Dürlemann an. Die
Zeit, als Pauline den kleinen Fritz Dürlemann betreut, der sehr an ihr hängt,
wird die glücklichste in ihrem Leben sein. Das kurze Glück endet, als Babette
Dürlemann von ihrem Mann für seelenkrank erklärt und allein aufgrund einer
einfachen ärztlichen Bescheinigung in ein Sanatorium abgeschoben wird. Wer
einmal drin ist, muss auch nicht richtig im Kopf sein, ist damals die
verbreitete Meinung. Das symbiotische Verhältnis zwischen dem kleinen Fritz und
seinem Kindermädchen wird vom Vater abrupt beendet. Pauline kann sich
glücklich schätzen, dass sie problemlos Arbeit in einem Textilgeschäft
findet.
Für einen so unsteten Menschen, der selbst glaubt, an angeborener Zerstreutheit
zu leiden, hat Hoffmann sich ein gewaltiges Arbeitspensum aufgeladen. Nicht zu
glauben, dass eben dieser Dr. Hoffmann, als er sich über das mangelnde Angebot
an Bilder-Büchern für kleine Kinder ärgert, kurz entschlossen selbst ein Buch
für seinen Sohn Carl zeichnet. Das schon damals umstrittene Buch findet nicht
nur einen Verleger, es ist bis heute bekannt: Der Struwwelpeter. Der Mann, der
als Kind den Anforderungen seines Vaters an einen Sohn nicht genügen konnte,
stellt in diesem Buch mit dem Zappel-Philip als erster ein hyperaktives Kind
dar. (Die Dürlemanns und die Passavants sind von Berger erschaffene
Romanfiguren, die Krankengeschichten Paulines und des Patienten Christian
Völker hat die Autorin Hoffmanns Psychiatrischen Schriften entnommen.)
Probleme hatte ich mit dem lässigen Ton der neutralen Erzählerstimme, die mit
Modeausdrücken unseres Jahrzehnts eine vergangene Epoche beschreibt, in der der
gesellschaftliche Stand jedes Menschen noch exakt definiert war. Zu Hoffmanns
Persönlichkeit und seiner für ihre Zeit kecken Frau Therese jedoch passen
flapsige Formulierungen der Erzählerin.
"Wie ich ihn kenne, denke ich, dass Heinrich Hoffmann mir nicht allzu sehr
verübeln wird, seine Person, Lebenserinnerungen und übrige Schriften hier en
detail verwertet [...] zu haben." Mit dieser augenzwinkernden Bemerkung
schließt Ruth Berger den Kreis und ihre Leser verzeihen ihr einige lässig
formulierte Szenen in diesem sonst ernsten Stoff.
Sehr hilfreich fand ich die Übersichtliche Auflistung aller Personen auf einem
Extrablatt - diesen kleinen Luxus würde ich mir für jeden Familienroman
wünschen.
Fazit
"Der Seelarzt" liest sich spannend wie eine Familiensaga, berührt mit
der einfühlsamen Darstellung des kleinen Heinrich und der psychisch erkrankten
Pauline und gibt nicht zuletzt Einblick in das Verhältnis zwischen Herrschaft
und Dienstboten im 19. Jahrhundert, das Ruth Berger sehr glaubwürdig schildert.
Hoffmanns geduldige Suche nach der Ursache von Paulines Wahnvorstellungen zeigt
anschaulich das begrenzte Wissen über psychische Erkrankungen zur damaligen
Zeit.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 17. Juli 2010 2010-07-17 14:44:49