Träger Fluss des Lebens
1986 explodierte die Challenger, sieben Astronauten starben. Charlie aber,
16jährig, dick, durchaus orientierungslos und träge, erlebt just in diesem
Moment seine erste Annäherung an die weibliche Anatomie.
Neben dieser intensiven Suche und Beschäftigung mit dem weiblichen Geschlecht
gibt es nur noch das beständig eher unmotivierte vor sich hin singen und den
Versuch, als Dicker nicht allzu sehr unter die Räder des Spotts zu geraten.
Charlie sucht seinen Weg und laviert sich durch die Jahre seiner Jugend und
seines jungen Erwachsenenlebens hindurch, umgeben von einer Familie, deren
Mitglieder jeder für sich einzigartige Macken offen zur Schau trägt und die
dennoch ein hervorragend beobachtetes kleinbürgerliches Bild der ausgehenden
80er Jahre abgeben.
Wie kann es sein, dass dieser Charlie, der im Verlauf des Buches von einer
Trägheit zur anderen fließt, keinen Plan für sein Leben entwickelt und
lakonisch bemerkt, dass man als Dicker eben nur jene Frauen beglückt, die am
Wegesrand wie liegengeblieben auftauchen, wie kann es sein, dass wir diese
Charlie am Ende des Buches hineingeschlittert in eine Art Karriere dann erleben?
Pünktlich zum Tage des zweiten, großen Shuttle Unglückes der Columbia?
Thomas Glavinic erzählt in teilweise mitreißendem, lakonisch-ironischem
Sprachstil mit einem staubtrockenen Humor die Entwicklungsgeschichte dieses
haltlos durch die Gegend und durch die Zeit taumelnden Jungen und Mannes, der in
eine Vielzahl von Situationen, der in ganze Berufe, alleine deswegen
hineingerät, gerade weil er eben ein "Sitzer" ist, kein Draufgänger
und Sitzer nun mal nur in extremen Situationen entweder "Nein" sagen
oder die Initiative ergreifen.
Dennoch kommt Charlie durch. Finanzielle Zuwendungen aus der Familie,
Zufallsbekanntschaften, der Erwerb des Taxischeins trotz seiner erbitterten
Gegenwehr und, zu guter Letzt, die faustdicke Überraschung im Fernsehen (auch
dies ohne sein Zutun, zufällig hineingeraten).
Eine Geschichte aus einem Guss schreibt Thomas Glavinic. Großartig erzählt,
voller Ironie, die nicht in Zynismus abgleitet, sondern immer die unschuldige
Betrachtung der Welt behält und die das unterschwellige Selbstmitleid des
Protagonisten nie in den Vordergrund rückt. Treffend gelingt es ihm, nicht nur
seine Hauptperson, sondern auch alle weiteren Personen wie beiläufig zu
skizieren, so dass sie und ihre Verflochtenheit in das Zeitgeschehen lebendig
vor Augen geführt werden.
Im Gegensatz zu Büchern wie "Generation Golf" rückt hier auf ganz
anderer sprachlicher Ebene mit hoher Erzählkunst die Innensicht einer seltsam
antrieblosen Generation in den Blick, die in treffend geschilderter
Ziellosigkeit das Leben dahinfließen lässt.
Fazit
Wunderbar erzählt, treffend geschildert, mit klar erkennbaren Charakteren
ausgestattet und voller Ironie begleitet Thomas Glaviniv seinen Helden, der nie
da ankommt, wo er in seiner Fantasie gerne wäre, der dennoch beständig, oft
notgedrungen, in Bewegung ist und wie nebenbei am Wegesrand zu pflücken
versteht, was sich ihm bietet.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 10. Juli 2010 2010-07-10 14:27:59