Max ist ein Nerd, ein ziemlich nerdiger Nerd; denn er interessiert sich für
Nachrichten aus aller Welt. Der 12-jährige norwegische Schüler hat nicht nur
besonders früh Lesen gelernt, sondern beschäftigt sich in der Zeitung und im
Internet geradezu süchtig mit den Tagesereignissen. Die kryptisch formulierte
Postwurfsendung mit kleinem weißen K auf grünem Grund ist für Max und seinen
Freund Egil der Beginn eines ungewöhnlichen Erlebnisses. Zwanzig coole,
charismatische Kinder zwischen 8 und 13 werden von einem norwegischen
Fernsehsender gesucht, die für die Aufzeichnung einer Reality-Show eine
persönliche Wahlkampagne entwickeln und gegeneinander um Mandate in einer
Kinderregierung konkurrieren sollen. Mit gigantischem technischen Aufwand wird
das Experiment auf der kleinen Insel Fernholmen im Oslo-Fjord stattfinden. Ein
ganzes Sortiment an Beratern und Psychologen wird aufgeboten, um die Eltern der
Kinder zu beruhigen. Zusätzlich erhält jede beteiligte Familie einen
Touch-Screen-Schirm, auf dem die mit einem Sender versehenen Teilnehmer
jederzeit geortet werden können.
Der Ort der Aufzeichnung wirkt wie eine Insel aus dem Bilderbuch, auf der jeder
gern seine Sommerferien verbringen möchte. Auch das Projekt Kinderregierung
klingt verführerisch; denn welches Kind hat nicht schon davon geträumt, Eltern
und Lehrer zu entmachten und selbstständig über die eigenen Angelegenheiten zu
entscheiden? Max, der der Meinung ist, dass es sowieso schon zuviel Unterhaltung
gibt, scheint die ideale Besetzung für die Rolle des Medienkritikers in der
ausgewählten Runde zu sein. Abgeschieden vom realen Leben müssen die Kinder
nun von "der Uhr" über ihr Leben bestimmen lassen. Das Ding am
Handgelenk erinnert an Termine, informiert, übermittelt den jeweiligen Standort
und berechnet den aktuellen Stand der Lebenspunkte. 10 Punkte täglich sind
schnell verbraucht; wer wegen schlechten Benehmens auf Null ist, wird nach Hause
geschickt. Am dritten Tag haben schon zwei Kinder einen Punktestand von Null.
Die Entscheidung über die Lebenspunkte fällt eine erwachsene Aufpasserin. Die
Angelegenheit klingt nach Manipulation und Zensur; wer den Organisatoren
unbequem wird, läst sich auf diese Weise bequem von der Insel verbannen. Dass
Erwachsene auf der Insel die Regeln vorgeben und über Konsequenzen entscheiden,
wird von den Teilnehmern nicht infrage gestellt. Wenn man sowieso jederzeit nach
Hause geschickt werden kann, lohnt es sich, vorher schnell noch ein bisschen
Randale zu machen, findet Lars und bringt damit die Schwachstelle der ganzen
Aktion auf den Punkt. Per Mannschaftsbildung entstehen schnell eine seriöse und
eine Spaß-Partei, eine Art Pizza-Connection. Boris der so gern provoziert,
Ibrahim, der Muslim, die politisch engagierte Irene und Julie, die
Umweltaktivistin und Vegetarierin treffen in einer Mischung aus Partyspielchen
und ernsten Debatten über die Zukunft unserer Erde aufeinander. Doch schnell
zeigt sich, dass das Insel-Experiment von Anfang an ein abgekartetes Spiel
war.
Das Reality-Format in unterhaltsamer Form aufs Korn zu nehmen, bietet sich nach
dem Erfolg der
Tribute von Panem an. Das Insel-Experiment zieht seine Leser mit
seiner bildhaften, humorvollen Sprache schnell in seinen Bann. Doch die gute
Idee und die glaubwürdig gezeichneten Charaktere werden von einer für
12-jährige Leser viel zu abgehobenen, verwirrenden Handlung verdeckt. Die
wichtige Frage, ob Kinder wirklich etwas ändern können und wie eine
Gesellschaft Kindern mehr Einfluss einräumen kann, wird leider von
oberflächlichen Show-Elementen verdeckt. Ich vermisse auf der Insel die
alltäglichen Konflikte, die Kinder in einer Gemeinschaft sehr gut ohne
Erwachsene lösen können. Kinder benötigen keine peinliche Kindergartentante
eines Fernsehsenders, die Verhaltensnoten vergibt und entscheidet, wer weiter an
der Sendung teilnehmen darf. Welches norwegische Kind braucht einen von Quallen
bereinigten Strand und einen Rettungsschwimmer zur Aufsicht? Wie glaubwürdig
wäre eine Kinderregierung, die solch banale Fragen des Alltags nicht allein
regeln kann? Das Potential seiner unterschiedlichen Figuren und der
Gruppendynamik der Insel-Situation schöpft Melli kaum aus. Wenn schon Max die
Mechanismen des infantilen Reality-Formats mit seinen künstlich erzeugten
Konflikten nicht erkennt und die wirtschaftlichen Interessen des Veranstalters
nicht analysiert, dann doch hoffentlich eines der anderen Kinder.
Fazit
Für die Altersgruppe der Zwölfjährigen, an die sich das Buch wendet, wird im
Inselexperiment zuviel geredet und zu wenig gehandelt. Die pfiffigen Ideen und
die bildreiche Sprache des Autors kommen in dem viel zu langen Text leider kaum
zur Geltung.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 10. Juli 2010 2010-07-10 09:31:35